TALLINN/REUTLINGEN. »Ich bin durch die Hölle gegangen«, sagt Matthias Diether. Der Reutlinger Spitzenkoch wischt sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Ins Schwitzen gebracht hat ihn die TV-Show »Kitchen Impossible«. Er habe das Format »in vielen Punkten unterschätzt«, sagt der 49-Jährige im Trailer für die Spezial-Folge, die am kommenden Sonntagabend (20.15 Uhr) auf Vox ausgestrahlt wird. In dieser begibt er sich mit TV-Koch Tim Mälzer auf eine Reise durch die baltischen Länder. Beide liefern sich ein Duell, wer die ihnen vorgesetzten einheimischen Gerichte am besten nachkochen kann, ohne die Zutaten zu kennen. Aber wie ist Diether überhaupt in dieser Extremsituation gelandet?
»Die Produktionsfirma ist auf mich zugekommen«, erzählt er im Gespräch mit dem GEA. »Man wollte einen im Ausland erfolgreichen Koch haben.« Mit seinem Restaurant 180°, das er in der estnischen Hauptstadt Tallinn betreibt, hat sich der Reutlinger längst international einen Namen gemacht. Im vergangenen Jahr wurde er mit dem bereits zweiten Stern der französischen Gourmetbibel Michelin ausgezeichnet. Der Streaming-Gigant Netflix hat bereits eine Dokumentation über ihn produziert. Mit all dem hat er dafür gesorgt, Estland auf die Weltkarte der Spitzengastronomie zu setzen.
Burnout nach acht Jahren Dauerstress in Berlin
Ausgewandert ist Diether 2016. Oder vielmehr geflüchtet. »Ich war total ausgebrannt. Acht Jahre Berlin haben geschlaucht.« In der deutschen Hauptstadt stand er im inzwischen geschlossenen Sterne-Restaurant First Floor »bis zu 17 Stunden am Tag« am Herd. »Als Perfektionist wollte ich diesen verdammten Stern«, erinnert er sich. »Ich bin unheimlich ehrgeizig und dickköpfig.« Er stellte fest: »Ich war in die falsche Richtung unterwegs.« Er zog die Notbremse. Im Osten Europas verliebte er sich schnell in die Natur, lernte seine jetzige estnische Frau kennen und fand kulinarische Anregungen in der regionalen Küche. »Ich habe auch gelernt, das Leben entspannter zu sehen.« Zunächst arbeitete er als Küchenchef eines Gourmet-Restaurants. 2018 eröffnete er dann sein eigenes Restaurant in einem hippen Tallinner Hafenviertel. »Dort hat es dann ohne diesen Riesen-Druck mit dem Stern geklappt.«
Der Spitzenkoch, der sich seinen schwäbischen Akzent bewahrt hat, fühlt sich in Estland »sehr wohl und zu Hause«. Die Hauptstadt Tallinn erinnert ihn an Reutlingen. »Es ist alles etwas kleiner und übersichtlicher als etwa in Berlin.« Alle zwei Jahre besucht er alte Freunde in der Stadt, die er seine Heimat nennt – auch wenn er in Berlin geboren ist. Im Alter von drei Jahren ist er mit seinen Eltern nach Sondelfingen gezogen, die in der Nähe der Kliniken eine Zuschneiderei eröffnet haben. »Ich hab hier alle Höhen und Tiefen durchgemacht.« Talent zeigte er damals als Torwart beim TSV Sondelfingen. Bei den A-Junioren wechselte er zum SSV Reutlingen, träumte sogar von einer Karriere als Profi-Fußballer. »Als ich mit der Schule fertig war, habe ich mir erstmal eine Auszeit genommen und die Reutlinger Partyszene ausführlich kennengelernt.« An seine Zukunft verschwendete er keine Gedanken. Als Kumpels von ihm in die Drogensucht abgerutscht waren, »mit Spritzen und allem«, fasste Diether den Entschluss, sein Leben in den Griff zu kriegen. Mit Anfang 20 wollte nun seinem Onkel nacheifern und in der Gastronomie arbeiten.
Lehrjahre bei Spitzenköchen in der Region
Anfang der 1990er-Jahre habe er »in Reutlingen leider keine Möglichkeit gehabt, meine Ausbildung zum Koch zu absolvieren«, sagt Diether. Also pendelte er drei Jahre lang täglich nach Stuttgart ins Hotel Intercontinental, wo er vom einfachen Catering bis zum Fine Dining alle Facetten der Gastronomie kennenlernte. »Ich habe mich für Fine Dining entschieden.« Und dafür, Reutlingen zu verlassen. Einige Jahre schaute er bei Spitzenköchen der Region in den Topf und über die Schulter: Erst bei Lothar Eiermann im Wald- & Schlosshotel Friedrichsruhe, dann bei Wolfgang Staudenmaier im Da Gianni in Mannheim und last, but not least auch bei Harald Wohlfahrt in der Schwarzwaldstube in Baiersbronn. Bessere Lehrmeister ließen sich damals im Land kaum finden. Auch in Großbritannien und den Vereinigten Arabischen Emiraten hat er von namhaften Küchenmeistern gelernt. Mittlerweile hat er seinen eigenen Stil entwickelt, den er als modern und kreativ bezeichnet. »Mit Einflüssen der schwäbischen Küche.«
Darum geht’s bei Kitchen Impossible
»Kitchen Impossible« ist eine Kochshow, die seit 2014 auf dem Fernsehsender Vox ausgestrahlt wird. Die Folgen einer Staffel werden sonntags um 20:15 Uhr ausgestrahlt. In dem Format tritt Fernsehkoch Tim Mälzer gegen einen anderen prominenten Koch an. Die Duellanten schicken sich gegenseitig an ihnen unbekannte Orte, wo sie versuchen müssen, eine einheimische Spezialität eines örtlichen Spitzenkoches ohne Wissen der kompletten Zutatenliste möglichst perfekt nachzukochen. Familienmitglieder, Freunde oder Stammgäste des ortsansässigen Kochs bewerten dann, wie nah das nachgekochte Gericht geschmacklich an das Original heranreicht. Der Koch mit der insgesamt besseren Bewertung gewinnt das Duell. »Kitchen Impossible« wurde 2017 und 2018 für den Grimme-Preis nominiert. In diesen Jahren gewann die Sendung den Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie »Bestes Factual Entertainment«. (GEA)
Das Baltic-Spezial mit dem Reutlinger Matthias Diether wird auf Vox am Sonntag um 20.15 Uhr ausgestrahlt. Die Folge kann bereits jetzt auf dem Streaming-Dienst RTL+ angeschaut werden.
Ein Vorteil für die Baltic-Challenge bei »Kitchen Impossible« war aber vor allem seine kulinarische Erfahrung in Estland. »Meine Frau und ich gehen oft essen. Da bekommt man einen Einblick.« Diether macht aber klar: »Selbst wenn du auf allerhöchstem Niveau kochen kannst, kannst du versagen.« Bei den Gerichten, die er vorgesetzt bekam, seien die Einzelteile nicht mehr zu erkennen gewesen. »Man muss es herausschmecken.« Zeit, sich Gedanken zu machen, habe man aber nicht. »Nach der Verkostung geht’s direkt zum Einkaufen der Zutaten.« Das Internet als Hilfsmittel ist verboten. Nach einer Nacht im Hotel geht’s dann in eine fremde Küche. »Und dann sind rund um die Uhr noch Kameras um dich herum«, sagt der Reutlinger. »Es geht schlicht darum, cool zu bleiben. Das ist purer Stress.«
Freundschaft mit Tim Mälzer entstanden
Trotzdem sagt Diether. »Es war eine geile Erfahrung.« Während der acht Drehtage sei eine »feste Freundschaft« mit Tim Mälzer entstanden. »Wir haben gleich gespürt, dass es harmoniert zwischen uns.« Beide sind um einen lockeren Spruch nicht verlegen. Vom Produktionsteam kam die Rückmeldung, dass eine der besten »Kitchen Impossible«-Folgen aller Zeiten herausgekommen sei. Schon vor der Ausstrahlung habe er »etliche Anfragen« bekommen. »Es ging mir aber nie um Werbung für mich«, stellt er klar. »Ich hatte einfach Bock drauf.« Es ging ihm aber auch darum, die baltische Küche bekannter zu machen. »Ich bin ja irgendwie zum Botschafter geworden.«
Auch wenn er in Estland mit Frau und Tochter sesshaft und glücklich geworden ist, kann er sich vorstellen, irgendwann zurück nach Reutlingen zu kommen. »Ich bin noch sehr verwurzelt«, sagt der 49-Jährige, der sich über das aktuelle Geschehen in der regionalen Gastronomie auf dem Laufenden hält. »Leider passiert da nicht viel.« Ob er sich vorstellen kann, ein Fine-Dining-Restaurant in der Achalmstadt zu eröffnen? Matthias Diether überlegt kurz und sagt dann lachend: »Wenn ein Investor bereit wäre, kann er sich gerne bei mir melden.« (GEA)