REUTLINGEN. Am Anfang des Erfolgs stand Protest: Eine Gruppe junger Leute, die sich damals noch die »Crew« nannte, hat vor zwei Jahren ein leer stehendes Haus in der Kaiserstraße 39 besetzt, um Aufmerksamkeit auf Leerstände, fehlenden günstigen Wohnraum und die hiesige Wohnungspolitik insgesamt zu lenken. Die Besetzer forderten auch ein Leerstands- und Zweckentfremdungsverbot.
Die Immobilieneigentümerin, die Reutlinger Wohnungsgesellschaft GWG, drohte mit Räumung des Gebäudes, Oberbürgermeister Thomas Keck – der Stoßrichtung des Protests zugeneigt – übernahm die Vermittlerrolle.
So wurde der Protest Keimzelle für ein Reutlinger Novum: ein solidarisches Wohnprojekt zusammen mit dem »Mietshäuser Syndikat«. In der Kaiserstraße 39 und 41 sollen auf 640 Quadratmetern Fläche zwölf WG-Zimmer und fünf Ein- bis Dreizimmerwohnungen entstehen: 25 Menschen können günstig und selbstverwaltet eine Bleibe finden. Dazu ist ein Stadtteilzentrum im Erdgeschoss der K 41 vorgesehen.
Neuer Weg für Reutlingen
Aus der Crew wurde der Verein »Fanclub kollektives Eigenheim« (FCK). Er legte – nach einer Nachbesserung – Ende des Jahres ein laut Keck »rundum schlüssiges« Konzept für die Entwicklung der beiden Gebäude vor. Ein weiterer Bewerber war abgesprungen.
»Intensive und konstruktive« Gespräche hätten FCK, Stadt und GWG geführt, so Keck. Die GWG zieht unterdessen mit am Strang, und der OB konnte gestern bei der Unterzeichnung des Optionsvertrags verkünden: »Ich freue mich sehr, dass der Prozess, den wir gemeinsam durchlebt haben, einen guten Abschluss findet.«
»Einen neuen, mutigen Weg«, sieht Keck für Reutlingen. In anderen Städten etwa in Tübingen sind kollektive Wohnformen derweil längst Usus, um günstigen Wohnraum zu generieren.
Die FCK-Vertreter Timo Widmaier und Jochen Dachs stellten die Pläne vor. Das Haus in der Kaiserstraße 39 wird kernsaniert, das Hinterhofgebäude abgerissen. Im Neubau ist ein Mehrgenerationenhaus vorgesehen und das Stadtteilzentrum, das wie der Innenhof für jedermann zugänglich sein soll. Ein Saal für bis zu 50 Personen mit Theke, Küche und Sanitäranlagen wird errichtet werden und Raum für Konzerte, Nachbarschaftstreffen und mehr bieten. Initiativen und Vereine können ihn mieten. Ein Aufzug soll im Neubau für Barrierefreiheit sorgen. Natürliche Baustoffe, energetische Sanierung des Bestandsgebäudes, Stellplatzminimierung unterstreichen den nachhaltigen Ansatz.
Ein gutes Dutzend der ehemaligen Besetzer werden laut Widmaier Bewohner und Eigentümer.
»Mietshäuser-Syndikat« unterstützt und berät
Das »Mietshäuser-Syndikat« unterstützt und berät den Hausverein, dem die Eigentümer beitreten. 168 Projekte wurden nach dem Modell bundesweit schon realisiert. FCK und Syndikat gründen eine GmbH. Sie muss zunächst über Direktkredite – also ohne den Umweg über die Bank – von Privatpersonen, Firmen oder Vereinen 900.000 Euro Startkapital einsammeln, unter anderem, um Häuser und Grund zu kaufen. 540.000 Euro Festpreis sind vereinbart. Ein Jahr ist dafür Zeit. Dann läuft der Optionsvertrag mit der GWG aus.
3 Millionen Euro Investition sind laut Widmaier insgesamt angesetzt. Abbezahlt werden die Darlehen über die Mieten, die nach Wirtschaftskraft gestaffelt werden. 7,39 Euro sind als Basiswert pro Quadratmeter vorgesehen.
Eine Voraussetzung, dass sich der Fanclub überhaupt mit realistischen Chancen bewerben konnte, war die Konzeptvergabe, die der Gemeinderat jüngst als künftiges übergeordnetes Leitbild für städtische Ausschreibungen abgesegnet hat. Dabei stehen qualitative Stadtentwicklung, soziale Kriterien und Nachhaltigkeit im Fokus und nicht mehr Profitmaximierung.
Modellprojekt soll im Eigentum der Bewohner verbleiben
Als »hervorragende Mannschaftsleistung der Ämter«, rühmte Thomas Keck das Ergebnis und lobte auch die GWG, die absehbar künftig stärker in die Pflicht genommen werden wird in Sachen günstiger Wohnraum.
GWG-Geschäftsführer Ralf Güthert äußerte Freude darüber, »dass jemand gefunden wurde, der das Modellprojekt entwickelt«.
Das bleibt im Eigentum der Bewohner und wird ausschließlich »dem Zweck des guten und günstigen Wohnens dienen«, so der FCK, der auf seiner Internetseite um Unterstützer wirbt – insbesondere nun um Darlehensgeber, die die Idee des solidarischen Wohnprojekts auch monetär befördern wollen.
Dass der »Fanclub kollektives Eigenheim« mit dem Vorhaben nicht ausgelastet ist, versprach Timo Widmaier: »Das Projekt ist der Beginn einer Auseinandersetzung mit Reutlingens Wohnungspolitik.« (GEA)