REUTLINGEN-MITTELSTADT. Toni hat das große Los gezogen. Als das Kälbchen am 13. November aus dem Bauch seiner Mutter Elsa gerutscht ist, konnte die imposante Hinterwäldlerdame sich selbst um ihr Neugeborenes kümmern. Keine Kette hinderte sie daran, den Kleinen abzuschlecken, um ihn zu säubern – neugierig beobachtet von ihrer Herde. Toni hat nicht nur Glück, weil er in der Obhut der Familie Knecht in Mittelstadt unter traumhaften Bedingungen heranwächst. Er wird – so wie es heute aussieht – im Gegensatz zu seinen Artgenossen nie davon bedroht sein wird, dem Schlachter vorgeführt zu werden.
Der Biolandhof der Knechts am Rande des Reutlinger Teilorts ist einer von zwei Lebenshöfen des Vereins Lebenshilfe Kuh & Co, der seinen Sitz in Tengen (Landkreis Konstanz) hat. Als Lebenshof oder auch Tierschutzhof werden Auffangstationen bezeichnet, in denen Tiere, die beschlagnahmt, vernachlässigt, misshandelt oder vor dem Messer gerettet wurden, dauerhaft ein neues Zuhause bekommen. Ihre Haltung soll keinem kommerziellen Zweck dienen, finanziert wird ihr Dasein über Spenden oder – wie im Fall der 39 Schützlinge von Lebenshilfe Kuh & Co in Mittelstadt – über Patenschaften ab einem Monatsbeitrag von 5 Euro. Etwa 120 Euro erhält der Hof pro Tier für die Unterbringung, Pflege und Versorgung im Monat.
»Kühe haben ein gutes Erinnerungsvermögen und einen ausgeprägten Geruchssinn«
Dem schönen Ruben hat es Braunviehlady Stella angetan. Die beiden stehen gerne zusammen. Hingebungsvoll bearbeitet der Ochse mit seiner langen, rauen Zunge Stellas Schnauze. Die hat offensichtlich nichts dagegen. »Rinder sind soziale Tiere«, erklärt Sabine Massler. Die Gartenbauerin hat den Verein 2016 initiiert, heute hat er 16 Mitglieder und 270 Unterstützer. Die 60-Jährige kennt jedes Tier mit Namen, zu manchen hat sie eine ganz besonders innige Beziehung. »Wenn ich Frieda rufe, dann kommt sie angetrabt.« Auch Ruben, den sie gesund gepflegt hat, könne sie problemlos in einen Hänger führen. Kühe hätten ein gutes Erinnerungsvermögen und einen ausgeprägten Geruchssinn. Und ein gutes Gespür für Menschen: Wenn jemand Neues in den Stall kommt, dann wird er erst mal von Leitkuh Elsa abgecheckt. Erscheint ihr alles in Ordnung, ertönt ein Muhen durch den Stall.
Angefangen hat Sabine Masslers Kuhliebe vor vier Jahren, als sie in einem Kuhstall in Tengen »ein Bild des Entsetzens« vorgefunden habe: Das Futter im Futtergang verschimmelt, die Rinder randhoch im eigenen Kot. Einem Tier war das Horn anderthalb Zentimeter in den Kopf gewachsen, einem anderen machte die Kette am Hals schwer zu schaffen. »Frieda war die erste Kuh, die ich privat für 500 Euro freigekauft habe«, berichtet Sabine Massler. Der Bauer gab ihr das Kälbchen Franzi dazu. Es folgten Walter und Elsa für jeweils 300 Euro und Ruben wenige Tage vor seinem Schlachttermin. Viele ihrer Tiere, schildert Sabine Massler, standen jahrelang angebunden am selben Platz, bevor sie von diesem Schicksal erlöst wurden.
Auch die Knechts haben früher einmal Tiere in Anbindehaltung gehabt – so wie es gerade in kleinen Betrieben in Baden-Württemberg lange üblich war.
»Heute ist das ein Auslaufmodell«, sagt Gottlob Knecht. Die Anbindehaltung werde verschwinden – aber längst nicht alle Höfe werden die Investitionen leisten können, die eine artgerechtere Haltung erfordert. Die Familie Knecht hat vor 20 Jahren diesen Schritt getan, und einige Hundert Meter vom Haus in Mittelstadt entfernt drei große Hallen für Tiere, Maschinen und Futter gebaut.
Als Biolandbetrieb muss ihr Hof strenge Vorgaben erfüllen, was Fläche pro Tier im Stall sowie Auslaufmöglichkeiten anbelangt. Antibiotika dürfen nicht präventiv verabreicht werden, und der Hof muss in der Lage sein, selbst ausreichend Futter für seine Tiere zu produzieren. Die Gülle und der Mist, der in den Ställen anfällt, muss auf den eigenen Flächen ausgebracht werden. »Es ist ein Kreislauf«, sagt Gottlob Knecht.
Bevor die Knechts die Tiere des Vereins bei sich aufgenommen haben, produzierten sie Fleisch. Ihre Kälber verkauften sie an Bio-Mastbetriebe, bevor die Tiere geschlachtet wurden.
»Heute wird hier kein Fleisch mehr produziert. Die Tiere bleiben bis zum Lebensende. Die Jungtiere werden auch nicht enthornt.« Die Entfernung der Hörner, erklärt er, passiert normalerweise in den ersten Lebenswochen der Kälber. Entweder werden sie weggeätzt oder mit Brennstäben ausgebrannt – unter tierärztliche Aufsicht, mit Betäubungs- und Schmerzmitteln, wie Gottlob Knecht betont.
Notwendig sei die Entfernung der Hörner in engen Ställen, um Mensch und Rind vor Verletzungen zu schützen. »Die Tiere sind gestresster und aggressiver, wenn sie wenig Platz haben«, hat der Bauer beobachtet. In seinem Hof haben sie jederzeit Auslauf und verbringen den Sommer über auf der Weide. »Dann sind die Tiere ausgeglichener.« Überhaupt tun die Knechts »unser Möglichstes«, damit sich die Tiere wohlfühlen. »Die Tiere stehen da wie eine Eins«, bestätigt Sabine Massler. Ohne Fachleute wie die Knechts wäre es dem Verein nicht möglich, die Rinder artgerecht zu halten.
Toni ist ein Bullenjunges. Eine Kastration wird er über sich ergehen lassen müssen, wie die anderen männlichen Tiere seiner Herde. Er war der letzte Nachkömmling, denn immer mehr Tiere zu unterhalten, wird immer schwieriger für den Verein. Sabine Massler sagt, dass manche Tierschützer nicht über den nötigen langen Atem verfügen, den es erfordert, um Kuh und Co bis ans Lebensende zu versorgen: Während Milchkühe in konventioneller Haltung nach ihren Worten etwa vier bis sechs Jahre alt würden, erreichen sie unter optimalen Bedingungen 20 bis 25 Jahre. Für die 84 Rinder, die der Verein in zwei Bauernhöfen versorgt, fallen monatlich Kosten in Höhe von 8 500 Euro an.
»Unser Ziel ist, möglichst viele Menschen zu erreichenin den Höfen«
Jedes Tier vor dem Schlachter zu retten oder von der Kette zu befreien, ist nicht möglich. Sabine Massler und ihre Vereinsfreunde – fast alle Vegetarier oder sogar Veganer – wollen aber immerhin einen »symbolischen Beitrag« leisten und die Menschen zum Umdenken bewegen. »Unser Ziel ist, möglichst viele Menschen zu erreichen in den Höfen. Wenn man Rinder hautnah erlebt, passiert etwas mit einem. Drei bis vier Mal im Jahr gibt es dort Patentreffen. Es ist wie einen Stein ins Wasser zu werfen, der Kreise zieht.«
Toni nuckelt genüsslich an Elsas Euter. Ob er spürt, dass ihm niemand ans Leder will? (GEA)