REUTLINGEN. Nach dem Schulabschluss stehen junge Menschen oft vor der schwierigen Entscheidung: Studium oder Ausbildung? Die große Auswahl an Studiengängen und Ausbildungsmöglichkeiten kann überwältigend sein. Doch warum nicht beides kombinieren? Dafür ist nicht unbedingt der Gang an eine Duale Hochschule nötig. Auch Hochschulen für Angewandte Wissenschaften bieten ähnliche Programme an. An der Hochschule Reutlingen im sogenannten Reutlinger Modell.
In Zeiten des Fachkräftemangels in den MINT-Berufen (MINT steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) und Initiativen wie der »The Nerd Länd«-Kampagne des Landes ist das Reutlinger Modell besonders relevant. Es kombiniert eine vollwertige Fachausbildung mit einem Studium in den Studiengängen Maschinenbau oder Mechatronik an der Hochschule Reutlingen. Die Ausbildung umfasst Berufe wie Fachkraft für Industriemechanik, Werkzeugmechanik, Technisches Produktdesign und Mechatronik. Studierende erhalten da-durch zwei staatlich anerkannte Ab-schlüsse sowie eine finanzielle Unterstützung vom Arbeitgeber.
»Wir stärken unsere Rolle als praxisorientierte Hochschule und tragen zur Fachkräftesicherung bei«
Der Bildungsauftrag der Hochschulen umfasst nicht nur die Vermittlung von Wissen, sondern auch die Vorbereitung der Studierenden auf eine erfolgreiche berufliche Zukunft. »Das Reutlinger Modell erfüllt diesen Auftrag in besonderer Weise, indem es den Studierenden eine umfassende Ausbildung bietet, die weit über die reine Wissensvermittlung hinausgeht. Zudem stärken wir durch die enge Zusammenarbeit mit Unternehmen unsere Rolle als praxisorientierte Hochschule und tragen zur Fachkräftesicherung in der Region bei«, betont Prof. Dr. Hendrik Brumme, Präsident der Hochschule Reutlingen.
- Ein Modell mit Tradition und Erfolg
Seit 2001 profitierten bereits rund 350 Absolvierende vom Reutlinger Modell. »Die Initiative ging damals von den Unternehmen aus, insbesondere vom damaligen Leiter der Personalabteilung bei Wafios«, erinnert sich Prof. Dr. Hans-Gerhard Hertha-Haverkamp von der Fakultät Technik, »und wir als Hochschule haben das gerne unterstützt.«
Einer der Mitinitiatoren war Traugott Manz von der Ferdinand-von-Steinbeis-Berufsschule in Reutlingen: »Die Überlegung dahinter war, Studierenden von Anfang an eine Perspektive in Unternehmen zu bieten und gut ausgebildete Fachkräfte zu gewinnen, die hinterher auch den Betrieben erhalten bleiben.«
Das Konzept zeichnet sich vor allem durch die enge Verzahnung von Praxis und Theorie aus, die den Studierenden eine solide Grundlage und praxisorientiertes Wissen vermittelt. Dadurch können sie frühzeitig an innovativen Projekten mitwirken und ihr Potenzial zur Entwicklung neuer Technologien entfalten. Nach ihrem Abschluss sind sie als hoch qualifizierte Fachkräfte sowohl in der Industrie als auch in der Forschung stark gefragt. Laut Manz gehören die Modeller regelmäßig zu den Jahrgangsbesten, und die meisten Absolvierenden sind heute in leitenden Positionen in Unternehmen der Region tätig.
Beides probieren
»Ich entschied mich für das Reutlinger Modell, da ich unsicher war, ob ein Studium das Richtige für mich ist«, erzählt Florian Baur, Absolvent. »Die vollwertige Ausbildung im Voraus hat mich schließlich überzeugt und gab mir die Chance, beides zu probieren.« Sein Mut hat sich ausgezahlt: Er schloss sowohl die Ausbildung als auch das Studium sehr erfolgreich ab und ist heute Konstruktionsleiter bei Burkhardt+Weber Fertigungssysteme GmbH in Reutlingen. Hätte sich seine Sorge bezüglich des Studiums bestätigt, hätte er jederzeit auf die abgeschlossene Berufsausbildung zurückgreifen können. »Man kann dann entweder zurück ins Unternehmen oder eine berufliche Weiterbildung machen«, so Traugott Manz. Vor allem die intensiven Praxisphasen während der Fachausbildung zahlen sich im Studium aus.
Neben Florian Baur ist auch Alexander Späth, Absolvent im Bereich Mechatronik, von dem Konzept überzeugt: »Für mich war die Kombination aus Studium und Ausbildung der richtige Weg. Nach meinem Schulabschluss konnte ich mir ein reines Studium nicht vorstellen. Ich wollte immer schon praktisch arbeiten, mich aber auch theoretisch und methodisch weiterentwickeln, um die Hintergründe zu verstehen. Das Reutlinger Modell gab mir genau dafür die Chance.« Heute wendet er sein erlerntes Wissen in der Hardwareentwicklung bei eBike Systems bei der Robert Bosch GmbH an.
Nach Abschluss direkter Einstieg
Auch Mirjam Otto, Absolventin des ersten Jahrgangs, sieht große Vorteile in dem Modell, insbesondere für Frauen im MINT-Bereich. Sie berichtet: »Nach einer verkürzten Ausbildung in der Lehrwerkstatt wurde ich bereits nach einem halben Jahr in die laufende Fertigung und Montage eingebunden, während parallel das erste Semester lief. Nach der Ausbildung studierte ich und konnte in allen Semesterferien in meinem Ausbildungsbetrieb arbeiten, zunächst als Industriemechanikerin und später in der Konstruktion.« Ihre Diplomarbeit schrieb sie ebenfalls in ihrem Ausbildungsbetrieb. Dank der engen Bindung zum Unternehmen und der fundierten Einarbeitung während der Ausbildung, konnte sie nach ihrem Abschluss direkt in der Konstruktion einsteigen.
Alle drei Absolvierenden erinnern sich besonders gerne an den starken Zusammenhalt unter den Modellern während der Ausbildung. »Die große Gemeinschaft war für mich das Schönste, da man schon vor dem Studium über die Ausbildung viele Kontakte knüpfte«, so Baur. Laut Otto haben sie auch während des Studiums oft Lerngruppen gebildet oder gemeinsam an Projektarbeiten gearbeitet.

Neben den Studierenden haben aber auch Unternehmen wie Bosch oder Wafios seit der Einführung des Reutlinger Modells umfangreiche Erfahrungen damit gesammelt. Die Vorteile des Konzepts sowie die hohen Kompetenzen der Absolvierenden haben sie überzeugt. »Die ›Ausbildung‹ der RT-Modeller ist ein wesentlicher Faktor unseres Unternehmens im Hinblick auf die Nachwuchssicherung«, betont Florian Kohfink, Executive Vice President HR der Wafios AG. Auch bei Bosch haben sich die Absolvierenden als hervorragender Nachwuchs im Engineering etabliert.
- Erweiterung des Modells: Bachelor [+]
Aufgrund des großen Erfolgs wird das Reutlinger Modell nun auch neu in der Fakultät Informatik als »Bachelor [+]« angeboten. Hierbei wird das Studium mit einer Ausbildung zur Fachkraft Informatik kombiniert. Die Fakultät setzt dabei auf zwei thematisch sehr aktuelle Studiengänge: Medien- und Kommunikationsinformatik sowie Medizinisch-Technische Informatik. Diese Bachelor-Studiengänge orientieren sich inhaltlich an den aktuellen Anforderungen der Industrie, insbesondere im Bereich Softwareentwicklung.
»Nach meinem Schul- abschluss konnte ich mir ein reines Studium nicht vorstellen«
Ein Beispiel dafür ist das Softwareprojekt im Rahmen der Vorlesung »Softwaretechnik2« unter der Leitung von Prof. Dr. Peter Hertkorn. Hier erlernen Studierende die vollständige Entwicklung einer Software – von der Funktionalität bis hin zur Benutzerfreundlichkeit. »In diesem Projekt haben wir einen echten Auftraggebenden und die Software wird später tatsächlich von dem Unternehmen oder der Organisation genutzt«, erklärt Prof. Dr. Peter Hertkorn.
Das Konzept steht
Mehrere studentische Teams entwickeln die Software gemeinsam nach einem agilen Vorgehensmodell und arbeiten eng mit den Unternehmen zusammen. Die Ergebnisse werden dabei regelmäßig dem Auftraggebenden präsentiert und die nächsten Schritte mit ihm abgestimmt.
Die Planungen und Vorbereitungen für den Start des neuen Bachelor [+] sind bereits abgeschlossen. »Das Konzept steht. Wir haben schon erste Firmen, die teilnehmen und sind offen für weitere Unternehmen, die sich gerne bei uns, der Ferdinand-von-Steinbeis-Berufsschule oder der IHK Reutlingen melden können«, so Prof. Dr. Gabriela Tullius von der Hochschule Reutlingen.
Mit der Erweiterung des Modells auf den Bereich Informatik wird das Erfolgskonzept weiter ausgebaut und bietet noch mehr jungen Menschen eine vielversprechende Zukunftsperspektive. (GEA)
BEWERBUNG UND VERLAUF
Die Ausbildung beginnt jedes Jahr Anfang September. Eine Bewerbung beim potenziellen Arbeitgeber sollte bereits ein Jahr im Voraus erfolgen. Nach dem Ausbildungsstart ist eine Bewerbung für das Sommersemester an der Hochschule Reutlingen erforderlich. Während der zweijährigen Lehrzeit wird die Ferdinand-von-Steinbeis- Berufsschule besucht. Nach der verkürzten Ausbildungsdauer von zwei Jahren erfolgt die Abschlussprüfung bei der IHK Reutlingen. Darauf folgt ein verkürztes zweieinhalbjähriges Bachelorstudium, das mit einer regulären Abschlussprüfung und einer Bachelorthesis endet. Die Berufsschule bietet Beratungen und eine Übersicht über potenzielle Betriebe an.