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»Grüß Gott, Herr Bundeskanzler«

REUTLINGEN. Zu Kindertagen liefen in unserem Schwarz-Weiß-Fernseher oft Heimatfilme. Und so war es kein Wunder, dass mir Luis Trenker von frühester Kindheit an vertraut war. Trenker war nicht nur eine imponierend-stattliche Figur, sondern in meiner Wahrnehmung ein Alleskönner. Mit seinen Heimatfilmen, wie »Der Berg ruft«, wurde mir die Heimat schon früh ein Begriff und war für mich unverrückbar verortet: Sie lag nämlich in den Bergen, obwohl ich auf dem flachen Land groß geworden bin.

Die Wahrnehmung im Spiegel von Kinderaugen sollte aber bald zu Bruch gehen. Denn nachdem neben dem Ersten Fernsehprogramm im Jahr 1961 das ZDF auf Sendung ging, erschien in unserem kleinen Grundig-Fernsehgerät immer öfter der Herr Bundespräsident - und der hieß damals Heinrich Lübke. Dieser ältere Herr trug mit Sätzen wie »Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger« meist ungewollt zur Unterhaltung bei und bei Familienfesten, die es damals noch häufiger gab, wurden seine Sätze gerne rezitiert.

»So lernte ich, dass die Heimat in Wahrheit nicht in den Bergen liegt«

Ein »gleich geht’s los« soll er einem englischen Gast mit den Worten übersetzt haben »equal goes it loose« und mir ist noch in guter Erinnerung wie ihn mein Onkel zitierte, als Lübke einmal nach einem Interkontinentalflug keine Erklärung für die Zeitverschiebung hatte und sich die Flugdauer mit der Erdumdrehung zurechtbog - vielleicht war es auch andersrum. Schallendes Gelächter.

Auch für die Münchner Lach- und Schießgesellschaft waren Lübkes Patzer ein gefundenes Fressen. Und wenn das Staatsoberhaupt für Deutschland redete, brauchten ihm die Reporter eigentlich nur das Mikrofon unter die Nase zu halten, um bestes Kabarett zu bekommen. Wir hörten Lübke gern und so ging an uns nicht vorbei, dass der erste Mann im Staat oft von der »Liebe zur Heimat« redete und sie auch gerne in einem Atemzug mit der »Treue zum Volk« in Verbindung brachte. So lernte ich, dass die Heimat in Wahrheit nicht in den Bergen liegt, sondern quasi vor der Haustür zu finden ist.

Vor der Haustür aber hatte ich damals erste Bande zu einem Mädchen geknüpft, das mit dem ersten Schwall von Gastarbeitern von Norditalien nach Deutschland gekommen war und die auf den schönen Namen Daniela hörte. Natürlich nahm eine dramatische Liebesgeschichte ihren Lauf, denn Danielas einzige Sehnsucht galt nicht mir, sondern ihren Verwandten und ehemaligen Freunden, die im sonnenverwöhnten Italien wohnten, während es in der schwäbischen Provinz doch oft regnete.

»Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger«


Ihretwegen verknüpfe ich noch heute Heimat mit Heimweh und ihretwegen brachte ich dann später eine Heimatkunde-Lehrerin mit der Bemerkung auf die Palme, dass für manche Menschen die Heimat in der Po-Ebene liegt. Fälschlicherweise nahm die pädagogische Fachfrau an, ich hätte ihr gegenüber in verklausulierter Form den guten alten Götz von Berlichingen zitiert, weshalb ich dann die »Ziege des Herrn Seguin« abschreiben musste.

Heimatkunde - so lernten wir es jedenfalls in der Schule - hatte nichts mit Verwandten, nichts mit der Sprache und schon gar nichts mit anderen Ländern zu tun, sondern war der offizielle Name für ein Schulfach, das ich bis dahin unter dem Namen Stadt-Land-Fluss kannte. Wer sich in diesem Fach vor den Toren seiner Stadt gut auskannte, bekam in der Schule auch gute Noten. Davon waren die meisten Gastarbeiterkinder weit entfernt und während sich meine neue Freundin nicht zuletzt auch wegen ihrer mangelhaften Deutschkenntnisse in der Schule schwer tat, mussten ihre Eltern die von Lübke immer wieder als Tugend bezeichnete »Liebe zur Heimat und zum deutschen Vaterland« wohl als Diskriminierung empfunden haben.

»Wenn ich dieses abgegriffene Stück Papier aufschlage, geht mein Herz auf«


Dass sich diese Liebe zur Heimat auch bei vielen Deutschen nicht richtig einstellen mochte, erfuhr ich erst viel später. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg gab es 14 Millionen Deutsche, die nach offiziellem Sprachgebrauch ihre Heimat »verloren« hatten, was aber wohl die falsche Bezeichnung dafür war, dass sie oft unter lebensbedrohlichen Umständen aus ihrer Heimat verjagt oder vertrieben worden sind und nun keine wirkliche Heimat mehr hatten.

Ihr erzwungenes Leben in der Fremde war oft von den Gedanken an die »alte Heimat« begleitet und ich schäme mich heute dafür, dass ich die Vertriebenenverbände wegen ihrer oft zur Schau getragenen Heimatliebe lange Zeit für Revanchisten gehalten habe.

Wie Andreas Kossert in der Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945 erläutert, litten die Vertriebenen wie auch meine Freundin Daniela nicht nur unter Heimweh, sondern oft unter den verschiedensten Facetten von Ausgrenzung und fanden allenfalls nach einem langen Zeitraum der Anpassung einen Platz in Westdeutschland, das nicht ohne Grund als »kalte Heimat« bezeichnet wurde.

Wahrscheinlich ist es die Vielzahl dieser Einzelschicksale, die den Dichter Peter Handke einmal auf den Gedanken gebracht haben, dass die Heimat- und Orientierungslosigkeit das bestimmende Daseinsgefühl der Gegenwart ist. Wer dagegen wie ich die Heimat nie verloren hat, empfindet Heimat so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen, der nur dann Bedeutung beigemessen wird, wenn sie nicht da ist. Ich vermisse das Konstrukt »Heimat« nicht und wahrscheinlich lässt sich eine konkrete Heimat für mich auch deshalb so schwer lokalisieren, weil ich mich schon zu sehr vielen Orten zugehörig gefühlt habe: Zu den Canyons in den USA und zu den Fjordlandschaften in Norwegen, zu den stillen Seen auf den Lofoten und zu den unendlichen Wäldern Kanadas, zum Regenwald auf Sumatra und zur Wüste in Süd-Tunesien, zur Steppe Kameruns und zu den Bergen in den Alpen.

Und doch ragt für mich ein Flecken Erde wie ein Fels aus einer stürmischen Brandung heraus: Der Schönbuch, zwischen Bebenhausen und Herrenberg. Noch heute gehört eine »Wanderkarte Schönbuch« (Maßstab 1 : 50 000, Reise- und Verkehrsverlag Stuttgart, Nr. 37) zu meinen wertvollsten Unikaten. Wenn ich dieses abgegriffene Stück Papier aufschlage, geht mein Herz auf. Und schon werden sie wieder lebendig, die unzähligen Streifzüge, die ich oft allein in dieser wunderbaren Natur gemacht habe.

Den Schönbuch habe ich zu allen Jahreszeiten erwandert, erlebt, erfahren und - ich gebe es gerne zu - geliebt. Zu allen Tages- und Nachtzeiten war ich hier zu Hause. Bei stürmischem Regen habe ich hier ein Natur-Dach über dem Kopf gehabt. Den Mond habe ich hier aufsteigen und die Sonne untergehen sehen. Im dunklen Forst bin ich orientierungslos umhergeirrt, um mich schließlich doch wieder im Schaichtal oder im Goldersbachtal zurechtzufinden. Zur Brunftzeit habe ich hier röhrende Hirsche aus kurzer Distanz gesehen und gehört. Auf dem Bromberg musste ich vor einer Rotte Wildschweine die Flucht ergreifen. Und auf den grasgrünen Matten zwischen Breitenholz und Entringen bin ich in der Sonne gelegen und habe mich für wichtige Augenblicke von der Weltgeschichte verabschiedet.

»Die Vertriebenen litten nicht nur unter Heimweh, sondern auch unter Ausgrenzungen«


Bedroht war dieses Stückchen Erde für mich nur ein einziges Mal: Als der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, dem ich bei einer meiner zahllosen Wanderungen im Schönbuch begegnet bin und den ich respektvoll mit »Grüß Gott, Herr Bundeskanzler« angeredet habe, daraus einen Flugplatz machen wollte. Das ist zum Glück nicht geschehen. So lebt die Heimat weiter - auch wenn sie heute unter dem gewöhnungsbedürftigen Namen »Naturpark« firmiert und von einem professionellen »Waldmanagement« betrieben wird.

Doch zum Glück gibt es für mich die Erinnerung an die Kindheit, als dank der Trenker-Filme die unverfälschte, die einzigartige und einzig richtige Heimat in den Bergen lag. (GEA)

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