REUTLINGEN. Zwischenrufe, ruppiger Ton, Unterhaltungen, wenn andere reden: In vielen Debatten ist der Reutlinger Gemeinderat alles andere als ein Paradebeispiel für Sitzungsdisziplin. Die jüngste Diskussion, ob Reutlingen »Sicherer Hafen« werden soll, unterschied sich wohltuend. Trotz völlig unterschiedlicher Meinungen war der Austausch von gegenseitigem Respekt geprägt. Schließlich ging es um nicht weniger als den Tod, der vielen Geflüchteten auf ihren Routen übers Mittelmeer droht. Der Antrag von SPD, der Linken Liste, den Grünen und Unabhängigen und der FDP ging am Ende durch. »Ein Ehrentag für Reutlingen«, freute sich Vesperkirchenpfarrer Jörg Mutschler, der die Diskussion als Zuhörer verfolgt hatte.
»Ich sehe das alsmeine persönlicheChristenpflicht an«
Mit dem Beschluss ist Reutlingen bundesweit die 49. Stadt, die sich zum »Sicheren Hafen« und damit bereit erklärt hat, zusätzlich zur Verteilungsquote aus Seenot gerettete Flüchtlinge aufzunehmen. Es gehe darum, ein Signal zu setzen, begründete SPD-Rat Sebastian Weigle den Antrag seiner Fraktion. »Auf der Basis unseres Menschenverständnisses und unserer Werte können wir es nicht akzeptieren, dass Menschen in Hülle und Fülle im Mittelmeer ertrinken.« Es gehe darum, dieser Verantwortung gerecht zu werden. »Das heißt nicht, die Grenzen zu öffnen.«
Seenotrettung, bei der es letztlich um das Grundrecht auf Leben gehe, finde nicht mehr statt, sagte Gabriele Janz von den Grünen und Unabhängigen. Kommunen als Basis der demokratischen Gesellschaft müssten Stellung beziehen und sich mit andern zusammenschließen, um der Bundesregierung klar zu machen, dass Handlungsbedarf besteht. »Es kann nicht sein, dass Menschen an unserer Ignoranz sterben.«
Die CDU-Fraktion sprach sich gegen den Antrag aus. »Welcher vernünftige Mensch begibt sich auf ein Schlauchboot?«, fragte Andreas vom Scheidt. Seenotrettung sei zwar eine Pflichtaufgabe, doch es gebe keinen Wunschhafen. Werde »über das Maß hinaus« signalisiert, dass Städte einen sicheren Hafen bieten, sei das ein zusätzlicher Anreiz, das vermeintliche Traumziel zu erreichen. Der Beschluss bewirke nichts. »Wir halten es für den falschen Weg, mit Symbolpolitik Hoffnungen zu wecken.« Jürgen Fuchs (FWV) meinte, die Schlepper seien »Ursache des Übels«. Mit der Erklärung zum »Sicheren Hafen« werde »kein einziger Mensch mehr« aus Seenot gerettet. Auch sei nicht einzusehen, dass die Städte freiwillig Leistungen übernehmen, die der Bund zu tragen habe. Hagen Kluck (FDP) hielt entgegen, dass einige Argumente wohl zuträfen. Aber manchmal sei es notwendig, ein Zeichen zu setzen. »Das ist eine Frage der Humanität.«
Die Geflüchteten wüssten ganz genau, auf welche Risiken sie sich einlassen, sagte Rüdiger Weckmann (Linke Liste) an die Adresse von Andreas vom Scheidt: »Wie verzweifelt muss man sein, um auf ein Schlauchboot zu gehen?« Nehme Reutlingen unabhängig vom üblichen Verfahren zusätzliche Flüchtlinge auf, seien das maximal zwei Menschen, die aus absoluter Not gerettet wurden. »Das kann man sich ja leisten.« Bei der Erklärung zum »Sicheren Hafen« gehe es darum, Menschenleben zu retten, sagte Aleksandra Vohrer vom Integrationsrat. »Das ist ein Gebot der Menschlichkeit und der christlichen Nächstenliebe.« Und es sei eine Verpflichtung den Reutlingern gegenüber, die sich vor Ort in der Seenotrettung engagierten. »Wir bedauern es sehr, dass nicht alle Fraktionen hinter dem Antrag stehen, vor allem nicht die mit dem ›C‹ im Namen«, so Vohrer. Sie bitte um mehr Nachsehen, Verständnis und Humanität, meinte auch Njeri Kinyanjui (Grüne). »Das sind unsere Kriege, das geht uns alle an«, meinte sie zu den Fluchtursachen.
Gegen die Stimmen von CDU, den Freien Wählern und WiR wurde der Antrag beschlossen. Auch Oberbürgermeister Thomas Keck stimmte dafür. »Ich kann nicht anders. Ich sehe das als meine persönliche Christenpflicht an.« (GEA)