REUTLINGEN. Die EU-Kommission will die Richtlinien für Luftschadstoffe an die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anpassen. Geht die Gesetzesnovelle durch, werden ab 2030 die Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoffdioxid noch einmal halbiert. Die Stadt Reutlingen sieht sich zwar gut aufgestellt und hofft, Fahrverbote vermeiden zu können. Aber, so Oberbürgermeister Thomas Keck: »Wenn die Werte so verschärft werden wie geplant, könnte das zu einer neuen Qualität der Problematik bei Stickstoffdioxid und Feinstaub führen.« Die Städte dürften nicht allein in die Verantwortung genommen werden, warnt er. Auch die Industrie- und Handelskammer (IHK) ist in Sorge.
Jetzt schon unterm strengeren EU-Wert
Eine Aufstellung der von 2020 bis 2022 an den Reutlinger Messstationen erfassten Luftschadstoffe kann die Verwaltungsspitze schon mal aufatmen lassen: Fast alle liegen bereits jetzt unter den von der EU vorgeschlagenen Grenzwerten und teils sogar unter den noch strengeren Richtwerten der WHO. Letzteres ist beim an der Messstelle Pomologie ermittelten Jahresmittelwert für Feinstaub (PM 10) der Fall, der 2022 bei 14 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft lag. Der WHO-Richtwert liegt bei 15, die EU will 20 Mikrogramm. Bei den Luftmessstationen Pomologie und Lederstraße-Ost werden die geplanten anderen EU-Grenzwerte– PM 2,5 und Ozon – unterschritten.
Ausreißer Luftmessstation Lederstraße
Ein Ausreißer sind nur die an der Lederstraße-Ost gemessenen Stickstoffdioxid-Werte. Sie liegen zwar deutlich unter den aktuell geltenden Grenz- und Zielwerten, aber noch über dem, was die EU-Kommission für 2030 anpeilt: 2022 wurde ein Jahresmittelwert von 32 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft ermittelt, nach vorläufigen Messungen sank er 2023 auf 28 Mikrogramm. Der aktuell gültige Grenzwert beträgt 40 Mikrogramm, die EU-Kommission schlägt 20 Mikrogramm vor. Die Hintergrundbelastung – also der an der Luftmessstation Pomologie ermittelte Stickstoffdioxid-Jahresmittelwert – lag 2022 bei 18 Mikrogramm.
»Man sieht, dass wir mit unseren Maßnahmen erfolgreich sind«, kommentiert Oberbürgermeister Thomas Keck die Werte. »Aber auch die Zeit arbeitet für uns«, räumt der OB ein. Immer weniger »Dreckschleudern« auf den Straßen, mehr E-Autos oder auch der ungebrochene Trend zum Rad – alles Faktoren, die helfen, die Emissionen zu senken.
OB Thomas Keck gegen Sammelklagerecht
Die Überlegungen, auf europäischer Ebene die Luftqualitätswerte abzusenken, hält der OB grundsätzlich für in Ordnung. Allerdings hat er wie seine Kollegen in Städten Bedenken, was die Zielrichtung angeht. Bei einer Sitzung zum Thema - Keck war dabei - bezog der Deutsche Städtetag klar Stellung: Die Verantwortung für saubere Luft dürfe nicht allein den Kommunen zugeschoben werden. Alle seien gefordert, die tatsächlich Emissionen verursachen. Und das seien nicht in erster Linie die Städte selbst: Industrie, Automobilhersteller, Energiewirtschaft und Landwirtschaft würden »erheblich« zur Luftverschmutzung beitragen und müssten ihre Emissionen drastisch reduzieren, weil sich Schadstoffe am besten an der Quelle vermeiden lassen. Auf die Verursacher-Liste gehören nach Meinung von Keck auch Holzheizungen. »Das sind enorme Feinstaubemittenten.«
Das Sammelklagerecht und individuelle Schadensersatzansprüche lehnt Keck kategorisch ab. »Das wäre der Super-GAU. Städte würden mit Klagen und Verfahren überzogen, ohne selbst Einfluss vor Ort auf Industrie, Fahrzeuge, Landwirtschaft oder Privatheizungen nehmen zu können.«
IHK: Technisch nicht machbar
Mit »großer Sorge« sieht auch die IHK die Pläne der EU-Kommission. »Die Einhaltung von verschärften Grenzwerten auf Basis der Zielwerte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist technisch nicht machbar«, ist sich IHK-Hauptgeschäftsführer Dr. Wolfgang Epp sicher. »Dazu kommt, dass wir schon heute beim Stickstoffdioxid eine Hintergrundbelastung haben, die aktuell in Reutlingen bei 16 und in Tübingen bei 14 Mikrogramm pro Kubikmeter liegt. Mit einem Grenzwert von 10 Mikrogramm können wir uns selber abschalten.«
Umwelthilfe begrüßt Verschärfung
Und die Deutsche Umwelthilfe? Sie begrüßt erwartungsgemäß die vorgesehene Verschärfung der Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoffdioxid ebenso wie das Sammelklagerecht und fordert, die Richtlinie schon 2025 in Kraft treten zu lassen. 2030 sei »deutlich zu spät angesichts jährlich 53.800 vorzeitiger Todesfälle wegen Luftschadstoffbelastung mit Feinstaub PM 2,5 und 6.000 mit dem Dieselabgasgift N0 2 in Deutschland«, heißt es in einer Pressemitteilung.
Noch Luft nach oben
Ob und wann die Richtlinien umgesetzt werden, wird derzeit noch verhandelt. Sollte es weiteren Handlungsbedarf geben, sieht Mario Zimmermann, Leiter der Taskforce Klima und Umwelt im Reutlinger Rathaus, durchaus Luft nach oben. Die Möglichkeiten zur Senkung der Luftschadstoffemissionen seien »vielfältig und nicht ausgeschöpft«, lässt er wissen. Als Stellschrauben nennt er unter anderem die Flottenerneuerung oder die Verlagerung vom motorisierten Individualverkehr auf den Umweltverbund, der mit der Regionalstadtbahn und weiteren Verbesserungen der Radinfrastruktur noch attraktiver werde. Die Stadt Reutlingen sei deshalb zuversichtlich, »dass es ihr mit ihrer fortgesetzten Arbeit für die Mobilitätswende und für eine nachhaltige, klimaneutrale Mobilität gelingen wird, die in der Diskussion stehenden neuen Grenzwerte ohne Fahrverbote einzuhalten«.
Fahrspurreduzierung soll bleiben
Weil die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Grenzwerte zwar im städtischen Hintergrund eingehalten werden, nicht aber an der Messstation Reutlingen Lederstraße-Ost, sei »in einem ersten Schritt die Betroffenheit zu erheben, um darauf aufbauend gegebenenfalls auch streckenbezogene Maßnahmen zu entwickeln«, kündigt das für den Luftreinhalteplan zuständige Tübinger Regierungspräsidium an. Als Beispiele für solche Maßnahmen werden Tempolimits genannt, Lkw-Durchfahrtsverbote oder auch die temporäre, verkehrsmengenabhängige Fahrspurreduzierung in der Lederstraße, die auch im neuen Luftreinhalteplan nach »derzeitigem Planungsstand«beibehalten werden solle. (GEA)