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Fakten und Hintergründe zur Reutlinger Geisel-Erschießung 1945

REUTLINGEN. Am 24. April 1945 brachen vier Männer am Schönen Weg im Kugelhagel eines französischen Exekutions-Kommandos zusammen. Sie erlitten »als Unschuldige den Geiseltod«, wie der Gedenkstein auf dem Friedhof Unter den Linden knapp mitteilt. Bis zum heutigen Tag bewegt das Drama viele in Reutlingen. Menschen, die jene Zeit miterlebt haben, und solche, deren Familien unmittelbar von dem Gewaltakt betroffen sind. Doch besteht heute, 60 Jahre nach Kriegsende, mehr denn je die Gefahr, dass rechtsgerichtete Kreise das Geschehen für ihre Propaganda missbrauchen. Denn was immer damals wirklich geschehen sein mag: Die ganze Wahrheit ist bis heute nicht ans Licht gekommen.

Der Gedenkstein auf dem Friedhof Unter den Linden erinnert bis heute an die Geisel-Erschießung 1945.
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Der Gedenkstein auf dem Friedhof Unter den Linden erinnert bis heute an die Geisel-Erschießung 1945. FOTO: HD
Der Gedenkstein auf dem Friedhof Unter den Linden erinnert bis heute an die Geisel-Erschießung 1945. FOTO: HD
Die Besetzung

Soldaten auf dem Rückzug und aufgehetzte "Hitlerjungen" verwickelten die französischen Truppen in wenige Scharmützel, als sie am 18. und 19. April 1945 von Westen her auf Reutlingen vorrückten. Dennoch starben etwa fünfzig Zivilpersonen, unter ihnen Frauen und Kinder, im Feuer der Geschütze oder unter Trümmern; einige legten selbst Hand an sich (Dr. Gerhard Junger, "Schicksale 1945). Hätte der "Volkssturm" nicht die Panzersperren oft schneller ab- als aufgebaut, hätte ein "Werwolf" den Siegern wirklich die Zähne zeigen wollen - die Stadt wäre in Schutt und Asche gesunken.

Doch die völlige Zerstörung blieb Reutlingen erspart. Auch deshalb, weil ein 47-jähriger Kaufmann namens Oskar Kalbfell den Panzern nach Betzingen entgegentrat und am Abend des 20. April 1945 (»Führers Geburtstag« mochte an jenem trostlosen Freitag niemand mehr feiern) auf dem Marktplatz den Franzosen die Stadt »kampflos« übergab.

Kampflos? Noch zwei Tage nach der Besetzung gab es irrwitzige Vorstöße deutscher Kommandos bis in die Kernstadt: Otto Sponer, Kreisleiter der NSDAP, lenkte sie von Pfullingen aus. Die meisten Parteigenossen waren längst über alle Berge. Reutlingens Oberbürgermeister von Nazi-Gnaden, Dr. Richard Dederer, hielt sich in Buttenhausen unter Behinderten versteckt.

Die Stunde null

Kalbfell, als alter Sozialdemokrat im Wesentlichen unverdächtig, ernannten die Franzosen zum kommissarischen Bürgermeister. Dass er im November 1939 die Aufnahme in die NSDAP beantragt, die Partei ihn aber wegen »mangelhafter politischer Zuverlässigkeit« zurückgewiesen hatte, konnte erst 1990 belegt werden (Hans-Georg Wehling, »Oskar Kalbfell - ein biographischer Versuch«). Die Besatzer wussten davon nichts. Oder argwöhnten sie braune Flecken auf der roten Weste? Wollten sie mit dem, was drei Tage später geschah, die Ergebenheit ihres Statthalters prüfen?

In der Stunde null scharte Kalbfell (geboren 1897 in Betzingen, OB in Reutlingen 1945 bis 1973, gestorben 1979 in geistiger Umnachtung) eine Hand voll Männer um sich, mit denen er zuvor schon im Geheimen besprochen hatte, was zu tun wäre, wenn - jedem vorhersehbar - das Dritte Reich vollends in Trümmer fiele. Widerstandskämpfer waren sie nicht; aber diese Leute versuchten zu retten, was zu retten war. Falls sie dabei eigene Interessen verfolgten, so trafen sich diese mit dem verdienstvollen Bemühen, die Not der Bevölkerung zu lindern. Mancher aus diesem Kreis stieg auf zu höchstem Ansehen.

Nicht so Dr. Georg Allmendinger, beigeordneter Bürgermeister unter Richard Dederer, zu NS-Zeiten »die wichtigste Person im Rathaus, und vielleicht nicht nur dort« (Wehling) - und natürlich »Pg.«, Parteigenosse also, wie alle mit Amt und Würden. Als Verwaltungsfachmann unentbehrlich, blieb er zwar, von der »Entnazifizierung« unbehelligt, bis 1952 in Kalbfells Stab. Dann aber trat er als kaufmännischer Leiter der Stadtwerke (bis 1961) aus dem Rampenlicht und starb 1986 in Hohenheim, 82-jährig und von den Reutlingern vergessen. Dederer selbst wirkte bis zu seinem Tode (1968) nur noch als Dolmetscher in Reutlingen. Schon die Besatzungsmacht hatte sich seiner Sprachbegabung bedient, nachdem sie ihn gefasst hatte. Jahrelang saß der Ex-OB im Straflager Balingen, wie wohl auch Otto Sponer und andere lokale NS-Größen.

Zwischenfall

Am Sonntag, 22. April 1945, gegen 23 Uhr ereignete sich auf der Lindachbrücke zwischen der Autowerkstatt am Eck und der Grabenmühle (beide sind längst abgerissen) ein verhängnisvoller Zwischenfall. Ein Unteroffizier der Besatzungstruppe kam zu Tode. Deutsche Zeugen schlossen anderentags aus den Spuren, der Mann sei mit dem Motorrad verunglückt. Die Franzosen dagegen, jederzeit neuer Anschläge von »Werwölfen« gewärtig, sprachen von einem Attentat. Der Soldat sei »erschossen« worden, hieß es zunächst, später »niedergeschlagen« oder »ermordet«.

Dokumente darüber, ob überhaupt jemand ums Leben gekommen war und auf welche Weise, konnten trotz vieler Versuche bislang nirgendwo gefunden werden. Auch 1951, im »Kalbfell-Prozess«, nach vier Verhandlungstagen und der Anhörung von neunzig Zeugen, konnte die Dienststrafkammer des Landgerichts Tübingen die Frage nicht klären. Der Oberbürgermeister selbst hatte 1950 die Untersuchung in Gang gebracht, um alle gegen ihn gerichteten Vorwürfe aus der Welt zu räumen. Eine Frage der Ehre - und seiner politischen Zukunft als Stadtoberhaupt und Landtagsabgeordneter.

Verhaftungen

Vom ersten Tag nach dem Einmarsch an hatten die Franzosen Verhaftungen vorgenommen. Wer immer ihnen als Nationalsozialist oder Wehrmachtsangehöriger verdächtig war, den setzten sie im provisorischen Rathaus (heute Verwaltungssitz der Gemeinnützigen Wohnungs-Gesellschaft) fest. Drahtzieher dieser Säuberungsaktionen war das Deuxième Bureau, der Sicherheitsdienst, mit Capitaine Max Rouché an der Spitze.

Am 23. April 1945, nach dem Vorfall am Lindach-Eck, gab es neue Verhaftungen und Verhöre, ohne dass ein Attentäter oder Auftraggeber hätte ermittelt werden können, wie Rouché Jahre später eingestand. Am Dienstag, 24. April, mussten dennoch vier Männer sterben: »Ein französischer Soldat ist ... ermordet worden«, verkündeten Plakate und behaupteten, »die Verantwortlichen sind erschossen worden. Eine Geldstrafe von 200 000 Mark ist der Gemeinde auferlegt worden.«

Terboven, Böhme, Kramer...

Max Rouché war Sicherheitsoffizier der Besatzer unter Colonel Gambiez, deutsche Polizisten hatten Handlangerdienste zu leisten. Während Zeitzeugen den französischen Capitaine allgemein als integre Persönlichkeit und sehr korrekt zeichneten, war ein gewisser Helmut Holzer aus Essen gefürchtet: Angeblich politisch Verfolgter unter dem NS-Regime, tat er sich nun als Zuträger des Deuxième Bureau hervor und hatte alle Vollmachten.

Jagd auf Nazis machten anscheinend auch ausländische Agenten. Da waren ein Gerhard Gräber, genannt Terboven, der sich in Mittelstadt als angeblich versprengter deutscher Soldat eingeschlichen hatte, und sein Komplize »Böhme«, der - beim Fallschirmabsprung verletzt - ins Reutlinger Lazarett zu Dr. Egloff kam. Dort spielte obendrein ein Dolmetscher namens Mertens eine undurchsichtige Rolle, tauchte kurz ein »Kramer« oder »Vandervelde« aus Holland auf, ließ sich ein Spion mit Decknamen »Kaiser« behandeln, der nach dem Krieg mit seinen Taten prahlte und 1948 in Haigerloch Selbstmord beging, nachdem er in rasender Eifersucht statt seiner Geliebten deren Kind erschossen hatte.

Die Stunde der Denunzianten

Mochten jene Reutlinger, die in den Nachkriegstagen andere anschwärzten, aus Angst und unter Todesdrohungen handeln oder in rachsüchtiger Entschlossenheit, es »denen« heimzuzahlen, die soviel Unheil gestiftet hatten: Es war die Stunde der Denunzianten, und »es regnete schriftliche und mündliche Angaben« (Rouché). Es gab hand- und maschinengeschriebene Aufstellungen mutmaßlicher NS-Verbrecher und »reine Verleumdungen«. Dr. Eugen Salzer, Kreisarzt, erinnerte sich 1951 vor Gericht: »Ja, es hat sehr viele Listen gegeben.«

Mit einer solchen Liste schickte Rouché am 24. April deutsche Polizisten los, um zwanzig Geiseln heranzuschaffen, die als Vergeltungsmaßnahme für den Tod des französischen Unteroffiziers hingerichtet werden sollten. Ein halbes Dutzend Männer brachten die Polizisten mit, aber der Sicherheitsoffizier ließ sie wieder laufen. Denn von den namentlich aufgeführten (angeblichen oder tatsächlichen) Nationalsozialisten hatten die Streifen nur einen erwischt; die übrigen waren unauffindbar. Die Besatzungsmacht hielt sich an andere, derer sie habhaft werden konnte.

Die Auswahl

Rouché selbst (so versicherte er später) wählte als Geisel Dr. Wilhelm Egloff, 60 Jahre, seit August 1941 in Reutlingen als Oberfeldarzt der deutschen Wehrmacht und Chefarzt des Reservelazarettes Reutlingen tätig. Im Zivilberuf war Dr. Egloff Facharzt für Orhopädie in Stuttgart. Dem Capitaine aber war zugetragen worden, Egloff sei im Range eines Untersturmführers Arzt der »Schutzstaffel« gewesen; der Franzose verband damit blindlings die Berichte über Gräueltaten von SS-Medizinern in Konzentrationslagern.

Zu Hause angetroffen und verhaftet wurde am Mittag Ludwig Ostertag, 54 Jahre, Redakteur der »Reutlinger Zeitung«, deren Inhalt nach dem Verbot aller anderen Blätter von Nationalsozialisten diktiert worden war und die noch am 18. April (am 19. stellte sie ihr Erscheinen ein) den »Werwolf« in einen aussichtslosen Kampf zu schicken versuchte.

Ebenfalls zu Hause abgeholt wurde - mit »Sonderbefehl« von unbekannter Hand, denn auf der ominösen Liste stand sein Name nicht - der Architekt und Soldat Wilhelm Schmid, 38 Jahre. Anfang April nach Reutlingen heimgeschickt, litt er immer noch unter Kriegswunden. Auch bei ihm wusste Rouché von einer SS-Mitgliedschaft (als Scharführer). Gezielt ausgewählt aber habe er Wilhelm Schmid ebenso wenig wie das vierte Opfer des Vergeltungsaktes.

Diesen Mann hielt besagter Helmut Holzer am Dienstagmittag einfach auf dem Rathaus fest: Jakob Schmid, 64 Jahre. Der Schreinermeister, der in jenen Tagen vor allem Särge für umgekommene »Werwölfe« und Zivilisten zimmerte, hatte offenbar keine Nägel mehr und wollte in der provisorischen Verwaltung nach Material und einem Transportfahrzeug fragen.

Nach der Geisel-Erschießung requirierte Holzer den Arztwagen Egloffs, einen Mercedes, für seine Zwecke. Er bezog die Villa Dederers und leerte dort mit Gesinnungsfreunden den Weinkeller des Oberbürgermeisters. Zwei Monate später machte der neue Sicherheitsbeamte der Franzosen, Sureté-Oberleutnant Masson, seinem obskuren Treiben ein Ende.

Die Gerüchte

Dass Jakob Schmid mal bei der SA (»Sturmabteilung«) mitmarschiert war, wer hatte das anzuzeigen für nötig gehalten? Wussten die Franzosen (und wenn ja, woher), dass der Schreiner unter den »Braunhemden« gewesen war, die im April 1933 Oskar Kalbfell und andere Personen, die der NS-Klüngel einschüchtern wollte, ins Konzentrationslager Heuberg begleitet hatten, wo der Sozialdemokrat neun Wochen eingesperrt blieb?

Kalbfell selbst bestritt zeitlebens, dass er sich an Jakob Schmid habe rächen wollen. Schließlich hätten nicht Mitläufer, sondern die Parteibonzen ihn »auf den Heuberg gebracht«. Mit Wilhelm Schmid habe er nicht viel zu schaffen und nie wirklichen Streit gehabt, ebenso wenig mit Egloff oder Ostertag.

Bis heute aber, über 60 Jahre hinweg, halten sich Gerüchte über persönlichen Hader, über dunkle Drohungen Kalbfells gegen die eine oder andere der Geiseln, über Motive, etwaige Mitwisser eigener Verfehlungen vor 1945 beseitigen zu wollen. Vor allem der Pfullinger Jakob Staiger (gestorben 1964) bemühte sich jahrelang, dafür den Wahrheitsbeweis anzutreten - vergebens.

Der Freispruch

Elisabeth Timm hat 1994 die Gerüchte zurückverfolgt, Ursprünge und Wandlungen der Erzählungen nach Interviews mit Zeitzeugen und Quellenstudien festgehalten (»Reaktionen auf die Reutlinger Geiselerschießungen 1945 - eine Studie zum kollektiven Gedächtnis«). Neue Fakten hat die Kulturwissenschaftlerin weder gesucht noch aufgespürt; obwohl sie »eine heimliche Hoffnung, den entscheidenden, spektakulären Hinweis zu finden« freimütig einräumt.

Ebenso wenig fündig geworden ist anscheinend Kalbfell-Biograph Wehling. Die Beweislage stellt sich damit heute nicht anders dar als am 20. September 1951, als die Tübinger Dienststrafkammer unter Landgerichtspräsident Nellmann »nach sorgsamer Auswertung« aller Tatsachen und Aussagen urteilte: Oskar Kalbfell habe »die als Geiseln erschossenen vier Reutlinger Bürger weder benannt noch in sonstiger Weise an der Auswahl dieser Geiseln mitgewirkt«.

Mehr noch: Nach übereinstimmenden, teils von Eiden bekräftigten Aussagen Oskar Kalbfells und seiner engsten Vertrauten (unter ihnen so unanfechtbare Persönlichkeiten wie der erste Nachkriegs-Landrat Hans Kern und der Unternehmer Karl Danzer, Reutlinger Ehrenbürger wie Kalbfell selbst) erfuhr der kommissarische Reutlinger Oberbürgermeister nur im Nachhinein von der Geiselerschießung. Max Rouché selbst bestätigte, er habe Kalbfell den angeblichen Anschlag auf den Motorradkurier erst am 24. April 1945 vormittags mitgeteilt und als Sühne lediglich die Zahlung von 200 000 Mark und Materialleistungen (Bettzeug, Küchengeräte) verlangt; eine Forderung, der Kalbfell sofort nachkam.

Die Hinrichtung

Geschah das, was an jenem Montag und Dienstag passierte, alles hinter Oskar Kalbfells Rücken? Zeugen berichteten, der OB habe später mehrfach verkündet, es sei ihm gelungen, die verlangte Zahl von zwanzig Geiseln auf vier herunterzuhandeln. Doch noch mehr Zeugen nahmen auf ihren Eid, in seinen Reden habe Kalbfell nie so was gesagt, und in keinem Stenogramm war dergleichen festgehalten.

Ein Teil des Dramas spielte sich dennoch gleichsam unter seinen Augen ab, im provisorischen Rathaus an dem Platz, der heute Oskar Kalbfells Namen trägt. Hier waren die vier Geiseln in Haft und teils im Verhör, Egloff schon am 23. April. Vom Fenster aus konnte Jakob Schmid am Mittag des 24. April seiner Frau noch zurufen, von einem »Kommandanten« wisse er, Kalbfell habe ihn als Geisel ausgewählt.

Wenig später wurden die Verhafteten scharf bewacht in das Gebäude Urbanstraße 22 geführt. Erst dort erfuhren sie, dass sie zum Tode bestimmt waren. »Eine Verhandlung fand nicht statt«, notierte Jakob Schmid in seinem Abschiedsbrief.

Zur selben Zeit holte der französische Feldgeistliche (Fr, aumonier, in füheren Berichten fälschlich als Eigenname interpretiert) den katholischen Stadtpfarrer Hermann Keicher, um den Geiseln in ihren letzten Stunden Beistand zu leisten; der evangelische Pfarrer war unauffindbar. Keicher sprach mit den Vieren, verweigerte aber 1951 jede Aussage über die Unterredungen, obwohl das Gericht ihn bedrohte und die Hinterbliebenen und der beschuldigte Oskar Kalbfell selbst ihn inständig baten, zur Aufklärung beizutragen.

Die Kirche unterstützte das Schweigen des Hirten, nahm das Amtsgeheimnis eines Priesters als unverletzlich in Schutz. Die Seelsorge überhaupt sei vertraulich, nicht nur die Beichte. Als katholisches Sakrament hatten die vier Männer ja keine förmliche Beichte ablegen können: Zwei waren Protestanten, die beiden anderen aus der evangelischen Kirche ausgetreten.

Kurz nach 15 Uhr am 24. April 1945 begleiteten die Geistlichen die Geiseln im Wagen aus der Stadt. Unterhalb des Schönen Weges, wo versteckt vor Haus 42 ein schlichter Gedenkstein steht, wurde ein halbe oder dreiviertel Stunde später die Hinrichtung vollzogen. Dass (wie der Essener »Fortschritt« 1950 schrieb) die Opfer gegen jede Konvention ohne Augenbinde erschossen worden seien, dass zwei noch lebten, bis ein Offizier mit der Pistole ihre Leiden beendet habe - dafür gibt es keinerlei Zeugnisse.

Tatsache ist, dass am Abend Pfarrer Keicher den entsetzten Familien die Todesnachricht überbrachte und dass die Leichen vom Exekutionskommando einfach liegen gelassen wurden. Leute der provisorischen Stadtverwaltung fuhren die Toten am Mittwochmorgen zur Bestattung auf die Römerschanze. Hier fanden alle Opfer des Krieges ihre Ruhestätte, seit Bombenhagel den Friedhof Unter den Linden verwüstet hatten.

Die Briefe

Pfarrer Keicher überbrachte den Familien auch die Abschiedsbriefe, die - während er bei ihnen war - die Geiseln hatten aufsetzen dürfen. Briefe, von denen zwei schwere Vorwürfe erhoben, jedoch die Frage offen ließen: Schrieben die Verfasser in ihrer letzten Stunde aus sicherem Wissen heraus dem Oberbürgermeister die Schuld an ihrem Tode zu? Oder vermuteten sie nur, vielleicht aufgrund falscher Einflüsterungen und in verbitterter Suche nach irgendeinem Motiv, als Urheber den Mann, der auf dem Wege war, der mächtigste in Reutlingen zu werden, und der dennoch nichts für ihre Rettung zu tun schien?

»Ich bin ja nicht bewusst, für was ich als Opfer dienen soll«, heißt es in Jakob Schmids Brief, »K. hat es so bestimmt und mich ausgesucht.« Wilhelm Schmid nennt den vollen Namen: »Mit noch drei Männern werde ich in einer halben Stunde erschossen. Auf Veranlassung von Herrn Kalbfell. Ich verzeihe es ihm.«