REUTLINGEN. Es gibt viele Arten zu leben und zu lieben. Doch die Gesellschaft tut sich noch immer schwer mit der breiten Varianz abseits der sogenannten Normalität: Am Samstag, 10. Juni, soll der erste Christopher Street Day (CSD) in Reutlingen für sexuelle Vielfalt und Toleranz Werbung machen. »Wir wollen zeigen, dass Reutlingen bereits bunt ist«, so Maximilian Berg, der erste Vorsitzende des Vereins »CSD Reutlingen«, der im vergangenen Jahr gegründet wurde, um ein solches Event unter der Achalm zu organisieren und zu etablieren: mit Umzug, Kundgebung, viel Information und möglichst vielen queeren und anderen Teilnehmern.
»Ich hoffe, dass die Menschen den Mut haben, zu zeigen, wen oder was sie lieben«
Immer noch haben viele Betroffene Hemmungen, sich als abweichend von Heterosexualität und/oder üblicher Geschlechterdefinition zu outen, weil sie Intoleranz, Diskriminierung oder gar offene Aggression fürchten.
Ende August letzten Jahres wurde beim CSD in Münster ein 25-jähriger Transmann von einem 20 Jahre alten Mann attackiert. Wenige Tage später erlag das Opfer seinen schweren Verletzungen. Brutalitäten wie diese schüren Ängste.
Dennoch sieht Maximilian Berg eine Veränderung zum Besseren. Insgesamt zeige sich die Gesellschaft in Deutschland toleranter. Fernziel sei: Sexuelle Orientierung soll überhaupt nicht mehr von Interesse sein. Jede/r soll – im Rahmen des gesetzlich Erlaubten – Liebe und Lust ausleben und sich selbst definieren, wie er sich fühlt, ohne sich erklären oder verteidigen zu müssen. Davon sei die Gesellschaft noch weit entfernt: Die Betroffenen überlegten sich, wie sie sich verhalten in der Öffentlichkeit, was sie dort anziehen und zu welcher Tageszeit, berichtet Maximilian Berg.
All diese Themen soll der CSD in Reutlingen in die Bevölkerung tragen. Er soll Berührungsängste abbauen, auch durch Information. »Wir wollen Aufklärung leisten«, so Maximilian Berg. In großen Städten weltweit steht ein CSD längst fest im Veranstaltungskalender. Nun will die Bewegung das Thema Geschlechtervielfalt auch in ländliche Regionen im öffentlichen Raum präsentieren.
Wo genau der Umzug verläuft und wo die Bühne sein wird, ist noch unklar. Gern würde die Gruppe das Herz der Stadt, den Marktplatz, mit einbeziehen. Aber dort kollidiert das Event unter Umständen mit dem Wochenmarkt. Der Bürgerpark ist eine weitere Option, eventuell der Schulhof des Listgymnasiums. Ein Rahmenprogramm ist angedacht, eine Tanzvorführung, vielleicht eine Drag-Show.
Aber davor ist erst mal viel, viel Arbeit angesagt. Mehr als die Veranstalter gedacht haben. Der junge Verein kämpft zudem mit den Kosten. 5 000 bis 7 000 Euro müssen, so schätzt Berg, aufgebracht werden für Miete, Reinigung, Absperrung, Security, GEMA-Gebühren und, und, und… Mit einer Spendenaktion versuchen die Mitglieder gerade, ein finanzielles Polster zu schaffen.
Ob die Parade in so schrill-bunter Partymanier über die Bühne geht wie etwa in Berlin, bleibt abzuwarten. »Reutlingen ist ja eher konservativ«, sagt Berg. Wenn 500 Teilnehmer kämen, wäre das für die Premiere »super«, sagt der gebürtige Pfullinger, der als Gesundheits- und Krankenpfleger im Klinikum am Steinenberg arbeitet. »Wir suchen Gruppen, die für das Thema einstehen und ihre Forderungen artikulieren.« Fridays for Future, andere CDS-Vereine, die Aidshilfe sind potenzielle Gäste. Am Ende des Zuges sollen sich die Zuschauer anschließen, um gemeinsam zur Kundgebung zu gehen – das wäre für Berg ein idealer Ablauf. »Ich hoffe, dass die Menschen den Mut haben, zu zeigen, wen oder was sie lieben und dass sie das Zeichen setzen: Wir verstecken uns nicht.«
Das Signal möchte der Verein auch an die lokale Politik senden. Man hofft hier auf Unterstützung und Entgegenkommen vonseiten der Stadt. Maximilian Berg will auch Oberbürgermeister Thomas Keck zum Event einladen. Und vielleicht hängt ja das Rathaus bei Reutlingens erstem großen Queer-Event eine Regenbogenflagge auf …
Wer den Verein kennenlernen möchte: Jeden ersten Freitag lädt er zum offenen Treff meist im Haus der Jugend ein. Die Kontaktaufnahme funktioniert über Instagram/Facebook oder über die E-Mail. Dort kann man auch Uhrzeit und genauen Treffpunkt erfahren. (GEA)