REUTLINGEN. Malesche mit der Eisenbahn: Der Abend begann mit schlechter Werbung für ein öffentliches Verkehrsmittel, dessen Pünktlichkeit einst sprichwörtlich war. Referentin Dr. Jutta Deffner aus Frankfurt erreichte am Donnerstagabend mit reichlich Verspätung das Haus der Jugend. Im »Demokratiecafé« ging es dann um die »Zukunft der Mobilität: Zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl«.
Ist Autofahren ein Zeichen von Freiheit? Gibt es gar ein Recht darauf, den eignen Wagen in Zeiten von bedrohlichen Klimaveränderungen und Luftverschmutzung grenzenlos zu nutzen?
»Das Auto war ein Zeichen von Freiheit. Nun sollten wir nachdenken, wie viel Freiheit wir brauchen und wo«, sagte Deffner, die am Frankfurter ISOE-Institut für sozial-ökologische Forschung den Forschungsschwerpunkt Mobilität und urbane Räume leitet. Sie sei weit davon entfernt, das Fahren zu verbieten. Der Frankfurter Gast propagierte vielmehr ein System aus »Regeln und Anreizen«. Zuvor gelte es zu prüfen, welche Siedlungsräume welche Verkehrsmittel vertrügen und ob das Auto in diesen Räumen unverzichtbar sei, um die Mobilitätsbedürfnisse zu befriedigen.
»Autofahren hat viel mit Freiheit zu tun«
Mit auf dem Sofa saß CDU-Stadträtin Karin Villforth – Mitglied im Ausschuss für Bauen, Verkehr und Umwelt. Sie vertrat im von SWR-Moderatorin Jana Kübel flott moderierten Abend das gängige CDU-Credo: »Wir unterstützen den Verkehrsmix. Jeder soll darin individuell entscheiden können, welches Mittel er wählt.« Autofahren habe »viel mit Freiheit« zu tun.
Die CDU setzt auf Verkehrsverflüssigung und auf technologische Weiterentwicklung. Das E-Auto sei dabei »nicht das Gelbe vom Ei« wegen der Produktion und der Entsorgung der Batterien.

Zugleich müssten ÖPNV, Rad- und Fußverkehr weiterentwickelt werden. Villforth nannte eine Reihe von Ideen, die der CDU gefallen: vom elektrischen Altstadtbähnle über eine Art Punktekarte wie beim Liftfahren für den Bus bis hin zu attraktiveren Radabstellmöglichkeiten in Fahrradparkhäusern. Für die autofreie Altstadt, die demnächst auf die Reutlinger Agenda kommt, hegt man keine Sympathie. Die CDU sorgt sich unter anderem um Ältere, insbesondere aber um den Einzelhandel, der in Konkurrenz mit autofreundlicheren Nachbarn wie Pfullingen oder Metzingen stünde.
Diese Abwägung müsse getroffen werden, gab Deffner zu. Denkbar sei aber auch Absprache mit den Nachbarn zum Nutzen aller: »Ich kenne keine autofreien Bereiche in einer Innenstadt, wo nicht ein positiver Effekt entstanden ist.« Der zurückgewonnene Raum könne neue Chancen eröffnen, etwa für die Gastronomie.
»Einfach mal ein Jahr ausprobieren«, riet Deffner und regte an, davor mit den Einzelhandelsvertretern in Städte zu fahren, die schon mutiger waren.
Los Angeles überlegt, Autoverkehr unter die Erde zu verlegen, berichtete die Mobilitätsexpertin. Auch Deffner ist klar, dass solche Ideen noch revolutionär sind. »Bei uns wurde 50 Jahre lang die autogerechte Stadt popagiert. Das kann nicht in fünf Jahren rückgängig gemacht werden.« Das Auto sei im Verkehr dominant – und in den Köpfen. Das heißt, es geht zuvorderst auch um Bewusstseinswandel. Das Auto zu nutzen, gelte beispielsweise als unkompliziert. Nun müsse Radfahren einfach werden: »Es muss funktionieren und Spaß machen.«
Dazu gehört für Karin Villforth die Trennung von Auto- und Radverkehr. Diese Notwendigkeit bezweifelte Deffner. Die Stadt müsse überlegen, wo getrennte Infrastruktur vonnöten sei und wo gleichberechtigter Verkehr. Bei einer Temporeduzierung von 50 auf 30 Stundenkilometer können Radler und Autofahrer in der Innenstadt durchaus miteinander zurechtkommen, so ihre Einschätzung.
»Welche Siedlungsräume vertragen welche Verkehrsmittel?«
Die CDU hat Sympathien für Shared Spaces, also Straßen, in denen alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt sind. Sie könnte sich dies für die Metzgerstraße vorstellen. Deffner ist kein ausgemachter Shared-Space-Fan: »Es gibt gute und schlechte Beispiele.« Wichtig sei ein guter Umbau der Straße und »viel darüber reden«: Die Veränderung müsse kommunikativ optimal begleitet werden.
Es müssen nicht immer große aufwendige Veränderungen sein. Die Frankfurterin hatte auch kleine Lösungen parat wie: interimsmäßig leer stehende Läden im Erdgeschoss der Innenstadt als Parkraum für Räder nutzen. Stadtplanung müsse ganzheitlicher werden, ihr Appell. Dabei gelte es auch, an bestimmten Stellen schwerpunkmäßig mal den einen, an anderer Stelle den anderen Verkehr zu fördern und diesem dann konsequent Vorrang zu gewähren.
Die jungen Besucher im Demokratie-Café – Sängerin Akeva hatte ihnen eingangs mit Afro-Soul das Warten verschönt – berichteten im anschließenden Austausch über ihre Verkehrsrealität: die sechs Reihen Räder, die vor einem Radständer am List-Gymnasium stehen, über abgesenkte Bürgersteige, die in Betzingen ungeahndet als Parkraum missbraucht werden, und das vom Busverkehr weiter wenig angebundene Achalmgebiet. Ein junger Mann griff das Grundthema des Abends auf. »Möchte ich Freiheit behalten, obwohl ich andere schädige?« Seine Antwort fiel in Sachen Autonutzung eindeutig aus: »Wir sollten anfangen zu reduzieren.« (GEA)
DAS »DEMOKRATIE-CAFÉ«
Das »Demokratie-Café« im Haus der Jugend (Museumstraße 7) ist eine Veranstaltungsreihe im Rahmen von »Partnerschaft für Demokratie« und zugleich eine Initiative des Reutlinger Integrationsrates Rui Pinto. Er möchte einen Ort schaffen, an dem vor allem junge Leute Gelegenheit haben, dringende Probleme der Gegenwart zu diskutieren. (GEA)