REUTLINGEN. Wenn das Leben, wie Schlagerstar Udo Jürgens einst trällerte, tatsächlich erst mit 66 Jahren anfängt, dann – tja – muss in diesem besungenen Leben doch einiges schief gelaufen sein. Sechseinhalb verschwendete Dekaden, bevor Sinnhaftigkeit und Spaß beginnen? Uiuiui. Was für ein Schicksal! Allerdings eines, das Sabine Großhennig definitiv erspart geblieben ist. Denn auch wenn die 66-jährige Marienkirchenpfarrerin am 27. Januar mit einem Konzert und tags drauf mit einem ebensolchen Gottesdienst in den Ruhestand verabschiedet wird, fängt für sie zwar Neues an, aber garantiert nicht das Leben. Ihres war und ist nämlich reich – angefüllt mit Menschlichem und Menschelndem, mit Familie und (professionellen) Begegnungen von der Wiege bis zur Bahre. Halt so, wie das bei Pfarrerinnen gemeinhin der Fall ist.
Zufrieden sieht Sabine Großhennig beim Pressegespräch aus. Entspannt. Zuweilen etwas nachdenklich. Vor allem aber vergnügt: Immer wieder bricht da dieses ihr wesenseigene, ansteckende Lachen hervor. Dass Großhennig die Gesundheit vor gar nicht allzu langer Zeit einen Streich gespielt hat – es macht sich nicht bemerkbar. Wiewohl die gebürtige Lüneburgerin davon spricht, dass sie seither »langsamer« geworden ist.
Ein Fingerzeig in Richtung Ruhestand?
»Vielleicht«, sinniert sie, »handelt es sich dabei aber auch bloß um eine ganz normale Alterserscheinung« beziehungsweise einen Fingerzeig: in Richtung Ruhestand, der der Theologin übrigens durchaus willkommen ist.
»Natürlich«, sagt die scheidende Pfarrerin, »werde ich manches vermissen«, anderes aber auch nicht. Dieses andere, das sind allen voran zähe Besprechungen; nennen wir sie Mondscheinsitzungen. »Auf die kann ich locker verzichten«, schmunzelt Großhennig, um im selben Atemzug zu betonen, dass derlei ausgedehnte Konferenzen, dass konstruktives Ringen um Kompromisse trotzdem deutlich besser ist, als jede Hopplahopp-Entscheidung: gerade in Zeiten des Wandels, der strukturellen Veränderungen, des Pfarrermangels und des Mitgliederschwunds.
Tauziehen um die Zukunft des Brenz-Gemeindehauses
Bewegte Zeiten im Jetzt und Hier, bewegte Zeiten auch schon zu jenem Zeitpunkt als Sabine Großhennig die Nachfolge von Marienkirchen-Pfarrer Johannes Eißler antrat. Im Advent 2005 war’s, als sie investiert wurde – kurz nach der heftig umstrittenen Fusion von Leonhards- und Marienkirchengemeinde und mittenmang im Tauziehen um die Zukunft des Brenz-Gemeindehauses.
Ein regelrechter Streit, entsinnt sich Sabine Großhennig, war damals um die Immobilie und ihre gemeinschaftsstiftende Funktion entbrannt. Lokaljournalisten bezeichneten die Auseinandersetzung gar als »Kirchenkampf« – weil sich Gegner und Befürworter des geplanten Gemeindehaus-Verkaufs argumentativ duellierten. »Zwar hatte die Brenz-Gemeinde«, wie die Fast-Ruheständlerin erklärt, »formal schon immer zur Marienkirche gehört und ist nie eine eigenständige Gemeinde gewesen.« Gefühlt war sie’s für die Protestanten im Burgholz allerdings sehr wohl. Weshalb es einem Affront gleichkam, als Grundstück und Haus an die Postbaugenossenschaft Baden-Württemberg veräußert wurden: im Jahr 2011, da Sabine Großhennig für viele bereits zum »Gesicht« der Marienkirche geworden war.
Netzwerken, Crowdfunding, öffentlichkeitswirksame Aktivitäten
Und das kam nicht von ungefähr. Umfasst(e) ihr Dienstauftrag doch zu fünfzig Prozent – die andere Hälfte blieb den klassischen Pfarrer-Aufgaben vorbehalten – die sogenannte Stadtkirchenarbeit: Netzwerken, Fundraising, Führungen und derlei öffentlichkeitswirksame Aktivitäten mehr. Kaum eine Spendenübergabe zugunsten der Marienkirche oder deren Rieger-Orgel, kaum ein Pressegespräch und kaum ein neues Veranstaltungsformat, an dem Sabine Großhennig nicht beteiligt gewesen wäre.
Das machte sie binnen Kurzem stadtbekannt. Umso mehr, als auch die Kirchenmusik ins Ressort der leidenschaftlichen Chorsängerin fiel: »Großhennig? Das ist doch die Musikpfarrerin«, hört man deshalb oft. Was indes nur bedingt zutrifft. Sind Konzerte und Co. schließlich nur ein Detail der Stadtkirchenarbeit. »Ihr Anteil am Gesamten lässt sich kaum beziffern. Sie laufen eher nebenher.«
Kurzandachten für den Rundfunk
Ebenfalls nebenher: Sabine Großhennigs einstiges Engagement beim SWR, das zuweilen als mediale Vollzeitstelle fehlinterpretiert wurde und wird. »Rundfunkpfarrerin«, heißt es immer mal wieder, sei sie gewesen. Ist sie aber nicht. »Ich habe zwar fast zehn Jahre lang Andachten fürs Radio geschrieben und gesprochen. Rundfunkpfarrerin war allerdings Dr. Lucie Panzer« – im offiziellen Auftrag der württembergischen Landeskirche, mit erheblicher Reichweite und gewissermaßen als Pionierin niederschwelliger Glaubensvermittlung.
Das Besondere an den von Panzer und Team initiierten geistlichen Impulsen: Sie dauerten exakt zwei Minuten und fünfzig Sekunden. Ein Zeitfensterchen, das gemessen an Gottesdienst-Predigten winzig erscheint und dennoch groß genug ist, um Wesentliches an- und auszusprechen – pointiert und ohne Umschweife, als Beweis dafür, dass Kirche durchaus auch knackig kann.
Diese Würze in der Kürze hat Sabine Großhennig zweifellos geprägt und inspiriert. Unter anderem zur Reutlinger Veranstaltungsreihe »Orgelgedanken zur Marktzeit«, die sie in Kooperation mit dem ehemaligen Kirchenmusikdirektor und Bezirkskantor Eberhard Becker an den Start brachte.
Für Musikfreunde mit und ohne Konfession
»Marktmusiken gab es da in anderer Form schon in etlichen Städten«, so Großhennig. Die Verknüpfung von Kurzandacht und Kurzkonzert ist jedoch ein Reutlinger Eigengewächs. Und noch dazu eines, das kostenlos zu erleben ist – von Musikfreunden mit und ohne Konfession, nach Lust und Laune.
Diese Offenheit von Kirche war und ist der 66-Jährigen ein Anliegen. Wiewohl Offenheit für Sabine Großhennig sehr wohl Grenzen kennt und nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden darf. Etwa wenn es um Bestattungen geht. So hat die Theologin – dies geschah ein paar Jahre vor ihrer Reutlinger Zeit – einmal eine Trauerpredigt abgelehnt: weil der Verstorbene lange vor seinem Ableben aus der Kirche ausgetreten war und die Witwe oft genug signalisiert hatte, dass auch sie auf den christlichen Glauben pfeift. »Deswegen stand ich nicht zur Verfügung«, so Großhennig. »Kirche ist schließlich nicht larifari. Es gibt genug weltliche Redner.«
Genug Pfarrer gibt es – mangels Nachwuchs – hingegen längst nicht mehr. Ein Trend, der sich zu Sabine Großhennigs Studienzeit noch nicht abzeichnete. Damals waren Säle und Seminarräume an der Uni Tübingen gut gefüllt. Mittendrin: Sabine; eine junge Frau, die sich für Theologie interessierte. Im »Religionsunterricht in Nürnberg« – dorthin war die Familie nach lebensläufigen Stationen in Lüneburg, dem Rheinland und Saarland gezogen – hatte Sabine Großhennig einst die wissenschaftliche Neugier auf die »Lehre von Gott« gepackt.
Erste »ständige« Pfarrstelle in Wurmlingen
Um ihr nachgehen zu können, büffelte sie Latein, Altgriechisch und Hebräisch – »obwohl ich in der Schule mit Latein wenig anfangen konnte. Ich habe damals keinen Sinn darin gesehen und war richtig schlecht«. Was sich mit Studienbeginn – »damals hatte ich noch nicht die Berufsvorstellung, Pfarrerin zu werden« – freilich komplett änderte. Und siehe da: »Plötzlich fiel mir das Lernen leicht.«
Nach dem Examen hielt sich die Theologin zunächst mit einem Uni-Job als geprüfte Hilfskraft und einer Putzstelle über Wasser, ehe sie ihr Lehrvikariat in Schwäbisch Gmünd und ihr Pfarrvikariat in Tuttlingen absolvierte, um schließlich im Jahr 1997 die erste sogenannte »ständige« Pfarrstelle in Wurmlingen bei Tuttlingen anzutreten. Dann, acht Jahre später: der Wechsel nach Reutlingen. Und weitere achtzehn Jahre später: der Wechsel in den Ruhestand.
Auf ihn fühlt sich die scheidende »Miss Marienkirche« übrigens gut vorbereitet. Dass sie seinetwegen in ein Jammertal stürzen könnte – diese Gefahr sieht Sabine Großhennig nicht. Denn da sind konkrete Pläne vor. Beispielsweise der Umzug nach Nürnberg, wo Teile ihrer Familie wohnen. Aber auch das Vorhaben, Theologie-Seminare zu besuchen, erfüllt die 66-Jährige mit Vorfreude.
Erinnerung an den geerdeten Engel
Und wie verhält es sich mit der »Nachfreude«? Antwort: hervorragend. Sind da doch zahlreiche schöne Erinnerungen, die Sabine Großhennig in die Zukunft begleiten werden. Darunter ein echtes Highlight: der buchstäblich geerdete Marienkirchenengel.
Während der Turmhelmsanierung anno 2009 war die 38 Kilo schwere und knapp anderthalb Meter hohe Figur zu Boden »geschwebt« und hatte den Reutlingern ordentlich Beine gemacht. Ob Groß, ob Klein, Alt oder Jung – Tausende wollten sich mit dem goldenen Wahrzeichen des Gotteshauses fotografieren lassen. »Die Leute haben uns überrannt. Es war berührend. Ich hätte zuvor nicht gedacht, dass es da so eine enge Verbundenheit gibt.« (GEA)