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Aktuell Inklusion

Den Mehrwert wieder erkennen

REUTLINGEN. Bei der Einbeziehung von Menschen mit Behinderung in den gesellschaftlichen Alltag hat sich in den vergangenen Jahrzehnten viel getan. Doch vor allem bei der Inklusion von Kindern und Jugendlichen in den Regelschulbetrieb hakt es nach wie vor ordentlich. Der Fall des kleinen Henri, der wegen seines Down-Syndroms weder auf ein normales Gymnasium noch auf eine Realschule durfte, schreckte die Reutlinger Jusos im vergangenen Jahr auf. In einer Podiumsdiskussion am Mittwochabend wollten sie deshalb den Gründen für das oftmalige Scheitern der Inklusion auf den Grund gehen.

Diskutierten auf Einladung der Reutlinger Jusos über das Thema Inklusion (von links): Joachim Kalk, Rektor der Peter-Rossegger-S
Diskutierten auf Einladung der Reutlinger Jusos über das Thema Inklusion (von links): Joachim Kalk, Rektor der Peter-Rossegger-Schule, Klaus Käppeler, SPD-Landtagsabgeordneter und Leiter der Grund- und Hauptschule Hohenstein, die Reutlinger Juso-Vorsitzende Ronja Nothofer, Manuel Möhler, Abiturient mit schwerer körperlicher Behinderung, und Stefan Hochgreve, Rektor der Eduard-Spranger-Gemeinschaftsschule. Foto: Jan Zawadil
Diskutierten auf Einladung der Reutlinger Jusos über das Thema Inklusion (von links): Joachim Kalk, Rektor der Peter-Rossegger-Schule, Klaus Käppeler, SPD-Landtagsabgeordneter und Leiter der Grund- und Hauptschule Hohenstein, die Reutlinger Juso-Vorsitzende Ronja Nothofer, Manuel Möhler, Abiturient mit schwerer körperlicher Behinderung, und Stefan Hochgreve, Rektor der Eduard-Spranger-Gemeinschaftsschule.
Foto: Jan Zawadil
»Behinderung entsteht nicht durch Defizit, sondern dadurch, wie die Gesellschaft damit umgeht«, meinte Manuel Möhler, der im vergangenen Jahr sein Abitur am Mössinger Firstwald-Gymnasium bestanden hat. Durch seine körperliche Behinderung musste der Reutlinger nämlich erfahren, dass von öffentlicher Seite oft genug keine Unterstützung kommt und ihn beispielsweise die Stadt auf kein Regelgymnasium lassen wollte.

Während die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in den Regelschulbetrieb an sich normal sein sollte und genauso vom Wollen abhängt, ist die Inklusion an der Eduard-Spranger-Gesamtschule laut deren Leiter Stefan Hochgreve hingegen zum Pflichtteil geworden. »Trotz der Normalität, die wir empfinden, haben wir Grenzen«, sagte Hochgreve. Bei der Barrierefreiheit gebe es nämlich großen Nachholbedarf. Die Stadt reagiere zwar mit großem Verständnis, sei aber keine Institution, »die uns unbegrenzt Ressourcen zur Verfügung stellen kann«.

Inklusion als Prozess

Neben dem Mangel an räumlichen Voraussetzungen sind es die Personalkosten für Begleiter, die eine gelungene Inklusion erschweren. Nichtsdestotrotz soll laut dem SPD-Landtagsabgeordneten und Leiter der Grund- und Hauptschule Hohenstein, Klaus Käppeler, die Sonderschulpflicht abgeschafft und ein Inklusionsgesetz noch vor den Sommerferien verabschiedet werden. Hier sei allerdings vorgesehen, dass Sonderschulen zu sonderpädagogischen Beratungszentren weiterentwickelt werden und Lehrer künftig entscheiden können, ob sie als Sonderschul- oder Regelschullehrer tätig sein wollen.

»Inklusion ist ein Prozess«, erklärte Joachim Kalk, Rektor der Peter-Rossegger-Schule. Die große Vision von der »Schule für alle« werde aber durch das Festhalten am gegliederten Schulsystem verhindert. Die Sorgen von Eltern nichtbehinderter Kinder, dass der eigene Nachwuchs durch die Inklusion Nachteile haben könnte, kann Kalk nicht nachvollziehen. Würden mit dem gemeinsamen Lernen doch Schlüsselqualifikationen für das spätere Berufsleben vermittelt. Zumal es letztlich nicht nur darum gehe, was in Griechenland vor 2 000 Jahren war, sondern wie empathisch sich Kinder und Jugendliche verhalten und wie sie Probleme lösen.

»Wir müssen uns vor Augen führen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die immer mehr an Vielfalt gewinnt«, ergänzte Manuel Möhler. Das sei bei der Inklusion genauso der Fall wie bei der Zuwanderung und müsse den Kindern beigebracht werden.

Kinder als Teil des Ganzen

»Wer Inklusion will, findet Wege. Wer sie nicht will, findet Begründungen«, sagte Klaus Käppeler. Wobei es darum gehe, dass Kinder – auch, wenn sie den Ansprüchen der Grundschule nicht genügen würden – Teil des Ganzen seien.

Letztlich muss laut Stefan Hochgreve aber der Mehrwert der Entwicklung, den die Inklusion mit sich bringe, herausgeschöpft werden. Nur habe die Gesellschaft das aus den Augen verloren. Außerdem müsse ein gesellschaftliches Umdenken stattfinden. Angesichts teils horrender Gewinne von Unternehmen sollte da auch über Umverteilungen nachgedacht werden, forderte Stefan Hochgreve. (GEA)