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Aktuell Ukraine-Krieg

Beispiel aus Reutlingen: Warum es für Flüchtlinge aus Drittstaaten schwierig wird

Der nigerianische Zahnmedizinstudent Joel ist vor dem Krieg in der Ukraine nach Reutlingen geflohen, bekommt als Drittstaatenangehöriger aber nicht ohne Weiteres einen Aufenthaltstitel. Asylpfarrerin Ines Fischer versucht, ihm zu helfen.

Der nigerianische Zahnmedizinstudent Joel ist vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland geflohen, bekommt als Drittstaatenan
Der nigerianische Zahnmedizinstudent Joel und die Reutlinger Asylpfarrerin Ines Fischer. Foto: Frank Pieth
Der nigerianische Zahnmedizinstudent Joel und die Reutlinger Asylpfarrerin Ines Fischer.
Foto: Frank Pieth

REUTLINGEN. Joel, gebürtiger Nigerianer, ist Zahnmedizinstudent. Beziehungsweise war es: Sein Studium in Dnipro fand ein jähes Ende, als die Luftangriffe der russischen Armee auf die ukrainische Großstadt begannen. Er floh, Hals über Kopf. Wie viele andere auch. Der junge Nigerianer schaffte es bis Deutschland, wo er weiterstudieren will. Inzwischen lebt er in einer städtischen Unterkunft in Reutlingen. Und bangt um seine Zukunft: In seine Heimat kann und will er nicht mehr, doch jetzt droht ihm die Abschiebung nach Nigeria. Denn als Drittstaatenangehöriger muss er nachweisen, dass er nicht zurückkehren kann. Doch das ist alles andere als einfach.

Joel kommt aus Biafra. Dort, erzählt er, habe er sich für die Unabhängigkeitsbewegung eingesetzt. »Leute, die für Freiheit kämpfen, werden von der Regierung als Terroristen behandelt«, sagt er. Freunde von ihm seien getötet worden. Ein Studium in Nigeria sei für ihn deshalb nie infrage gekommen. »Mein Leben wäre in Gefahr gewesen.«

Er entschloss sich, sein Zahnmedizinstudium in Europa zu absolvieren. Die Ukraine schien ihm das geeignete Land, weil es hier noch einigermaßen erschwinglich ist. 2.500 Dollar musste er dennoch zusammenkratzen. Die Familie ist arm, konnte ihn nicht unterstützen. »Ich habe«, sagt Joel, »sehr harte Jobs gemacht, um das Geld zusammenzubekommen.« 2020 war es so weit. Er bekam eine Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine bis 2025 zu Studienzwecken, reiste nach Dnipro. Um zu bleiben: »Ich wollte nicht mehr nach Nigeria zurück, ich wollte hier ein neues Leben anfangen.«

»Das wird ein ziemlicher Kampf«

Vor dem Corona-Lockdown reichte es noch für einen Sprachkurs, danach studierte er nur wenige Monate. Dann kam der Krieg. Joel erzählt vom Bombenhagel, von seiner überstürzten Flucht ohne Hab und Gut, von der Fahrt im übervollen Zug bis Lwiw an der polnischen Grenze. Wie er dort stand und stand zwischen den vielen Menschen. 24 Stunden, ohne Essen und Trinken, müde. Die ukrainischen Soldaten hätten ihn und andere Dunkelhäutige zurückgedrängt: Zuerst ließen sie die Ukrainer durch.

Er habe sich überlegt, in Lwiw zu bleiben, um schnell wieder an die Uni in Dnipro zurück zu können, sollte sich die Situation entspannen. Doch nichts sah danach aus. Also machte er sich über Ungarn auf den Weg nach Deutschland, wo er Freunde hat. Joel will hier sein Studium fortsetzen. Unbedingt.

Der 27-Jährige zeigt eine kleine, passähnliche Karte: seine »Fiktionsbescheinigung«. Ausgestellt wurde sie ihm, nachdem er eine Aufenthaltserlaubnis beantragt hatte. Wie alle anderen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine auch. Auf Grundlage der Massenzustrom-Richtlinie gibt es für sie ohne Asylverfahren eine Aufenthaltserlaubnis zum vorübergehenden Schutz, befristet bis Ende August 2022 – mit Option auf Verlängerung, wenn der Antrag noch nicht fertig bearbeitet ist. So lange gilt die Fiktionsbescheinigung, die wie bei einem erlaubten Aufenthalt zur Arbeitsaufnahme und Leistungsbezügen berechtigt.

Anders als Kriegsflüchtlinge mit ukrainischem Pass, sagt Asylpfarrerin Ines Fischer, wird Joel aber nicht problemlos einen Aufenthaltstitel bekommen. Ganz im Gegenteil. »Das wird ein ziemlicher Kampf.« Nicht nur für ihn, sondern auch für die vielen anderen Drittstaatenangehörigen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind und jetzt zu ihr in die Beratungsstelle kommen. Durch die Bank Studenten, die wie Joel nicht wissen, wie es weitergeht. Sie berichtet von einem jungen Pakistani aus Geislingen, der nur einen »Ankunftsnachweis«, aber keine Fiktionsbescheinigung bekommen hat. Die Ausländerbehörde habe ihm gleich ein Schreiben mit der Adresse mitgeschickt, bei der er sich die Rückflugtickets nach Pakistan besorgen kann. »Unglaublich empathisch«, ärgert sich Ines Fischer. Und hofft, dass »das in Reutlingen nicht so läuft und Drittstaatlern weiterhin eine Fiktionsbescheinigung ausgestellt wird«.

»Er hat alles aufgegeben,er hat nichts mehr«

Die Rechtslage ist kompliziert, die Praxis von Stadt zu Stadt und Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. »Das sorgt für große Verwirrung«, sagt die Asylpfarrerin. Und in Baden-Württemberg für große Sorge. Grund ist ein Informationsschreiben des Justizministeriums vom 12. Mai an die Ausländerbehörden, in dem es um die Prüfung von Anträgen nicht-ukrainischer Drittstaatenangehöriger geht. Diese müssten nachweislich belegen, dass sie »nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückkehren können«. Könnten sie diesen Nachweis nicht liefern, müsse verhindert werden, dass sie in ein »offensichtlich erfolgloses Verfahren« kommen.

Für Ines Fischer heißt das im Klartext: Das relativ einfache Aufenthaltsverfahren wird für die Drittstaatler a priori als sinnlos deklariert, um die Betroffenen in ein langwieriges Asylverfahren zu drängen. Und das mit wenig Aussicht auf Erfolg, weil dabei ausschließlich Fluchtgründe geprüft werden. Wie viele andere sei Joel aber nicht in die Ukraine geflohen: Er habe sich entschlossen, wegen seines Studiums die Heimat für immer zu verlassen, in der er wegen seiner politischen Aktivitäten keine Chance hätte. »Er hat alles aufgegeben, er hat nichts mehr.« Durch die Flucht aus der Ukraine habe er ein zweites Mal alles aufgeben müssen. »Das findet keine Berücksichtigung«, hinterfragt sie den Erlass. Und fordert Gleichbehandlung. »Er ist Opfer dieses Krieges geworden wie alle anderen auch, er hat seine ganzen Hoffnungen begraben.«

Im Vorgriff würden in Baden-Württemberg Fakten geschaffen, ohne die konkrete Situation der Kriegsflüchtlinge aus Drittstaaten zu betrachten, kritisiert die Asylpfarrerin. Unberücksichtigt bleibe auch die EU-Leitlinie, nach der Voraussetzung für eine Rückkehr von Drittstaatlern in ihre Heimat sein müsse, dass sie »Perspektiven zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse und die Möglichkeit der Integration in die Gesellschaft« haben müssten – was bei Joel ganz klar nicht der Fall sei.

Wird sein Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis abgelehnt, »werden wir ihn unterstützen und dagegen klagen«. Bis dahin kann viel Zeit vergehen. Joel nutzt sie. Seine Hoffnung, in Deutschland studieren zu können, gibt er nicht auf. Deshalb macht er auch fleißig bei dem, wie Ines Fischer es nennt, Deutsch-»Kursle« mit, das Ehrenamtliche eigens für Drittstaatler anbieten. (GEA)