REUTLINGEN/STUTTGART. Wer genau die Adoptivfamilie seines berühmten Dschungelkinds Tarzan ist, das hat der US-amerikanische Schriftsteller Edgar Rice Burroughs (1875–1950) offen gelassen. In seiner auf Englisch erstmals 1912 in einer Illustrierten veröffentlichten Geschichte »Tarzan bei den Affen«, der 1914 eine Buchausgabe mit 23 Fortsetzungen folgen sollte, wird die Affenart nicht genannt. Der Fantasy-Autor spricht von »großen Anthropoiden«, also Menschenaffen, von denen seine Abenteuergeschichte im afrikanischen Urwald handelt. In der Disney-Variante wurden daraus Gorillas. Affenmutter Kalas Baby wurde von einem Leoparden getötet, genauso wie die Eltern des Menschenkinds, das sie zu Beginn des nun im Stuttgarter Stage-Palladium-Theater in einer modernisierten Fassung neu aufgelegten Musicals im Baumhaus entdeckt. Stammesoberhaupt Kerchak ist von der Idee, den Menschling an Kindes statt aufzunehmen, gar nicht begeistert. Der junge Primat Terk hingegen findet Gefallen an dem zierlichen unbehaarten Zögling, mit dem er schon bald auf dem Waldboden, in den Baumwipfeln und zwischendrin in mehr oder weniger freiem Fall allerlei Schabernack treibt.
Das Dschungelleben auf einer Theater-Bühne vor Augen zu führen, ist eine Herausforderung. Die wird im Palladium rasant gemeistert – mithilfe von 7.000 Metern Kletter- und Bungee-Seilen, insgesamt 20 »Abflugpunkten« an der Bühnendecke und im Zuschauerraum, den eigens für diese Inszenierung erfundenen, maßgeschneiderten Fluggurten des argentinischen Aerial-Designers Pichón Baldinu, in denen sich alle Darsteller um 360 Grad in der Luft drehen können, und dem Regiekonzept von Bob Crowley, das als visionäres Gesamtkunstwerk Bühnenbild, Kostüme und immersive Lichtshow vereint.
Wegen der »Einflugschneisen« aus dem Publikumsraum des 1996/97 erbauten zweiten Musicaltheaters am SI-Zentrum seien die Sitzplätze auf den drei Ebenen dort seit der »Tarzan«-Premiere Mitte November auf etwas weniger als 1.800 geschrumpft, erklärt Organisator Andreas Haas am Freitagabend vor den mit Zeitungslesern aus einem weiten Umkreis vollbesetzten Rängen. Dabei sind auch 441 Leserinnen und Leser des Reutlinger GEA, die mit Reisebussen oder im eigenen Auto angereist sind. Er erzählt vor Beginn der Vorstellung zudem, wie es kam, dass der fünffache Schwimm-Olympiasieger Johnny Weissmüller für die erste Filmversion von Burroughs’ Stoff 1932 den legendären »Tarzan«-Schrei erfand: Da er einer Familie von in die USA ausgewanderten Donauschwaben entstammte, konnte er jodeln. In den zwölf Hollywoodfilmen, in denen er bis 1948 die Rolle des Urwaldmenschen verkörperte, prägen die Rolle darüber hinaus wenige Worte: »Ich Tarzan, du Jane.«
Textlich wird den beiden Darstellern des Dschungelhelden an jenem Abend in Stuttgart weit mehr abverlangt. Auch wenn der Kinderdarsteller und Terence van der Loo als erwachsener Tarzan anders als in dem ab 2016 in Stuttgart gespielten ersten Disney-»Tarzan«-Musical den berühmten Schrei nicht intonieren, so interpretieren sie neben ihren luftigen Stunts doch allerlei Dialoge und Lieder. Das tun sie ebenso wie Vajèn van den Bosch als Jane Porter – die andere Hälfte des berühmten Dschungelliebespaars -, Sidonie Smith als Gorilla-Mama Kala, Dániel Rákász als Silberrücken Kerchak, Elindo Avastia als Tarzans lustig-klamaukiger Affenfreund Terk und Ludo van der Winkel als Janes zwielichtiger Expeditionsleiter Clayton nicht nur durchweg fehlerfrei und hochprofessionell, sondern zudem berührend und mitreißend.

Den visuellen Höhepunkt dieses gut zweistündigen rasanten Abenteuers erleben die Teilnehmer der GEA-Leserfahrt nach Tarzans wildem Zweikampf mit der blitzschnellen, wendigen und mit rot leuchtenden Augen furchterregend dargestellten Bestie im Leopardenfell – und noch vor der halbstündigen Pause. Mithilfe einer hinter Holz-Lianen und Papp-Palmwedeln durchscheinenden 16 auf 10 Meter großen Projektionsfläche samt moderner immersiver Videotechnik entfaltet sich auf der Bühne die faszinierende Vielfalt einer sagenhaft urwäldlichen Natur – mit fantastisch phosphoreszierenden Glühwürmchen, artistischen Riesenschmetterlingen und fleischfressenden Pflanzen, durch die sich Jane als Gegenpart zur Affenwelt dem Publikum vorstellt. In Reifrock, Rüschen, Spitzen und Strohhut tapst sie begeistert durch dieses Fest der Farben – und findet das »ausgiebige Betasten« ihres halbwilden Retters Tarzan in einer ungewöhnlich lustigen Rom-Com-Szene trotz der berauschenden Vegetation »höchst unschicklich«.
Diese Szene der in vielerlei Hinsicht vom Original weg entwickelten »Tarzan«-Interpretation hat auch Kunigunde Hönes aus Eningen mit am besten gefallen. Die visuellen Effekte seien beeindruckend, schwärmt sie auf der Heimfahrt in Anke Harschs nagelneuem Reisebus. Helga Fritz aus Sondelfingen und ihre Freundin können gar nicht genau sagen, was das Beste an diesem Abend war. Fest steht für sie: »Es war sehr gut, alles, von der Geschichte bis hin zum Gesang.« Der Ausflug habe sich gelohnt. Ulrike Marsoun fällt da gleich ein Wort ein, das das Erlebnis umreißt: »Bombe!« Nur schlecht werden dürfe einem nicht bei dem wilden Hin und Her zwischen gepolstertem Bühnenboden und fingierten Baumwipfeln, wo der Stuttgarter Tarzan allein pro Vorstellung 231 Meter in der Luft zurücklegt und einige der anderen Darsteller Höhenunterschiede von bis zu 17 Metern im Flug überwinden.
Musik von Phil Collins
Die schönen, eingängigen Phil-Collins-Songs dieses beflügelnden Musicals spielt für den Zuschauer unsichtbar ein Live-Orchester unter der Leitung von Boris Ritter. Im Gedächtnis bleibt den mehr als 1.700 Zeitungslesern, die für jene Sondervorstellung inklusive kostenloser Getränke bis aus Tauberbischofsheim angereist sind, vor allem aber die grundlegende Botschaft dieser 112 Jahre alten Waisenjungen-Geschichte. Nicht nur der Eingangs- und Schlusssong handelt von »Zwei Welten – eine Familie«. Die grundlegende Frage zur Fremdenfeindlichkeit lässt David Henry Hwang, der das Skript verfasste, Gorilla-Mutter Kara stellen. Die fragt ihren Mann Kerchak, der Tarzan ein ums andere Mal aus der Gemeinschaft verbannen will: »Warum siehst du in jedem ’ne Bedrohung, der anders ist als du?« (GEA)