»Es lief einfach zu chaotisch ab«Sonka Müller vom Reutlinger Theater Patati Patata weiß davon ein Lied zu singen – und hat es dennoch gewagt. Seit Oktober vergangenen Jahres trifft sich die Theaterregisseurin einmal pro Woche mit Mitarbeitern und sieben- bis zwölfjährigen Kindern der Flüchtlingsunterkunft Carl-Zeiss-Straße, um gemeinsam an einem Theaterstück zu proben. Das Ziel war, »den Kindern im Theaterspiel einen geschützten Freiraum zu bieten, Erlebnisse und Träume, Wünsche und Ängste spielerisch umzusetzen, einen Ort des Vertrauens zu finden und ganz nebenbei auch ihre Sprachkenntnisse zu verbessern«, berichtet Sonka Müller. Eine kleine interne Aufführung des Stücks »Circus i ma jedan problem – der Zirkus hat Probleme« fand bereits Anfang April in den Räumen der Betzinger Asylunterkunft statt.
Doch es stellte sich zunehmend heraus, dass ein Theaterstück mit Jungs und Mädchen zusammen nicht das geeignete Mittel ist, um die unterschiedlichen Welten der Kinder in Einklang zu bringen: »Es lief einfach zu chaotisch ab«, berichtet Sonka Müller. Mal kamen zu wenig Kinder zu den Proben, mal waren die Sprachbarrieren einfach zu groß. Häufig mussten die Kinder mit ihren Eltern kurzfristig die Unterkunft wechseln und waren von einem Tag auf den nächsten nicht mehr verfügbar. Ständig stand die Unsicherheit im Raum, ob die Kinder beim nächsten Mal überhaupt noch dabei sind: »Es war nicht möglich, alle unter einen Hut zu bringen oder auf einen bestimmten Termin hinzuarbeiten«, so Sonka Müller, »das Ganze lebte vielmehr aus dem Moment heraus«.
»Endlich kann ich mal wieder was Sinnvolles tun«So beschloss die Theaterregisseurin, aus der Not eine Tugend zu machen und sich Simon Madaus von der Musikwerkstatt und Kerstin Risse vom Medien- und Mehr-Verein (Mum) mit ins Projekt-Boot zu holen. Während Sonka Müller weiterhin ein kleines Theaterstück mit acht Mädchen zwischen sechs und zwölf Jahren zum Thema Natur einstudiert, versucht der Musiker Simon Madaus, den Jungs das Trommeln beizubringen. Kerstin Risse begleitet das seit Januar vom Innovationsfonds des Landes Baden-Württemberg geförderte Projekt filmisch und hält den Entwicklungsprozess auf einem Video fest. Was dieses Projekt für die kleinen Akteure und ihre Eltern bedeutet, kann man kaum ermessen.
Das zeigte sich auch bei dem von Sonka Müller organisierten Theaterausflug, bei dem die Flüchtlingsfamilien zunächst eine Stunde gemeinsam durch die Natur spazierten und danach bei einer Baumpflanzaktion selbst aktiv werden konnten. Unter Anleitung von Markus Schwegler vom Umweltbildungszentrum Listhof pflanzten sie einen Kirsch-, einen Apfel- und einen Birnenbaum und man sah ihnen dabei ihre Freude an: »Endlich kann ich mal wieder was Sinnvolles tun«, freute sich ein aus Mazedonien stammender Asylsuchender, bevor er wieder den Spaten in die Erde rammte.
Auch sein Landsmann Beiram lebt bereits seit über einem Jahr mit seiner Familie in der Carl-Zeiss-Straße. Der Musiker bewohnt dort mit seiner Frau und drei Kindern ein kleines, hellhöriges Zimmer und teilt mit 33 weiteren Familien eine Toilette: »Es ist nicht einfach und das Schlimmste ist: Ich muss voraussichtlich noch ein weiteres Jahr unter diesen katastrophalen Verhältnissen leben«.
An diesem Nachmittag sind der Flüchtlingsalltag und die damit einhergehenden Zukunftsängste aber erstmal in den Hintergrund gerückt. Nach der Baumpflanzaktion und dem Verzehr des gemeinsam zubereiteten Essens holt er seine Trompete heraus und gibt mit seinem elfjährigen Sohn Edi und den trommelnden Jungs ein furioses Gipsy-Finale. So multikulturell und ausgelassen war ein Theaterspaziergang selten. (GEA)

