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Arme Mütter sind Expertinnen fürs Überleben

REUTLINGEN. »Ach, für so was hat sie Geld.« Dies war nur eine von vielen abschätzigen Bemerkungen, mit denen finanziell benachteiligte Familien im Mütter- und Nachbarschaftszentrum Reutlingen (MüZe) auf ihre Situation aufmerksam machten. Ergänzend dazu hatten sie eine wohl gar nicht so untypische Wohnung von ärmeren Familien abgebildet. Ein großes Foto eines übervollen Waschbeckens mit allen dazugehörigen Utensilien etwa.

Mit diversen  Installationen informierten betroffene Frauen über   Schwierigkeiten und  Mühsal, ihre Kinder mit ganz wenig Geld
Mit diversen Installationen informierten betroffene Frauen über Schwierigkeiten und Mühsal, ihre Kinder mit ganz wenig Geld versorgen zu können. FOTO: LEISTER
Mit diversen Installationen informierten betroffene Frauen über Schwierigkeiten und Mühsal, ihre Kinder mit ganz wenig Geld versorgen zu können. FOTO: LEISTER
Ein winziges Wohnzimmer mit Sofa und Fernseher. Auf der Mattscheibe rollt ein Auto über Landstraßen – als Symbol für den Wunsch auszubrechen, einfach wegzufahren? Oder doch eher die Konfrontation mit Vorurteilen? »Wieso machst du den Führerschein, wenn du eh kein Geld für ein Auto hast?«, musste sich eine Frau fragen lassen.
»Wieso machst du den Führerschein, wenn du kein Geld fürs Auto hast?«
Armut ist ein Tabu, über das niemand spricht, sagen die Frauen und Männer, die hinter dem Mütter- und Nachbarschaftszentrum und hinter der dort gezeigten Ausstellung stehen. Einzelne Aussagen von Frauen unterstreichen dieses Tabu. Wie etwa die von Anja Hermann: »Wenn ich mal ein Auto brauche, leihe ich mir das von meiner Mutter.« Gut also, wenn man eine Mutter mit Auto hat. Denn »Bus fahren mit zwei Kindern und vielen Einkäufen wird zum Erlebnis«, wie Christiane Zenner-Siegmann vom Tübinger Familienzentrum »elkiko« weiß. »Mobilität«, erklärt sie, »ist ein erster Schritt zur Selbstständigkeit.« Man denke nur an den Transport von Sprudelkisten. Oder man stelle sich vor, irgendwo auf dem Land zu leben und vom Öffentlichen Personennahverkehr abhängig zu sein.

In Kooperation von Reutlinger MüZe, »elkiko« und dem Mütterforum Baden-Württemberg ist die Idee von »Ein gedeckter Tisch für alle« entstanden. Gefördert wurde das Projekt vom Sozialministerium, und zwar im Rahmen des »Ideenwettbewerbs für Strategien gegen Armut«. Beim ersten Tisch dieser Art sind betroffene Frauen in Reutlingen zusammengekommen, haben sich ausgetauscht und auch ihre Wut und ihren Frust geteilt.

Das ist nach den Worten von Kreisjugendamtsleiter Reinhard Glatzel absolut nachvollziehbar: »Der allergrößte Teil armer Familien oder alleinerziehender Mütter ist nicht selbst verschuldet arm.« Und weiter: »Wir brauchen einen Aufschrei in der Gesellschaft. Es kann nicht sein, dass in so einem reichen Land wie Deutschland zehn bis fünfzehn Prozent der Gesellschaft konsequent ausgegrenzt werden.«

Joachim Haas, Sozialamtsleiter der Stadt Reutlingen, zeigte sich ebenso beeindruckt von der Ausstellung und den offenen Worten im MüZe wie Kreis-Sozialdezernent Andreas Bauer. Die Unterstützung der Politik sei gefordert, um etwa im Öffentlichen Nahverkehr Sozialtickets einzuführen, so Haas. »Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass eine Patchworkfamilie bei uns schräg angesehen wird«, resümierte Bauer für sich selbst.
»Es gibt doch vieleHilfen, die aber kaum abgerufen werden«
»Für Nudeln wird's doch wohl reichen«, lautete eine weitere diskriminierende Aussage in der Ausstellung. Bettina Noack als Kopf und Motor des MüZe erläuterte dazu: »Das war eine Antwort beim Jobcenter auf die Anfrage einer alleinerziehenden Mutter, ob sie in einer Notsituation einen Vorschuss für Windeln und Nahrung für ihre Kinder kriegen könnte.«

Bei einem Leben mit viel zu wenig Geld geht es laut Noack nicht nur um schnöden Mammon, »es geht auch um Respekt und Achtung«. Als eine der geladenen Gemeinderätinnen sagte Gabriele Janz (Grüne): »Es ist beschämend, wie Alleinerziehende Tag für Tag kämpfen müssen.« Dabei sei es für die Mütter fast immer selbstverständlich – wie sie im MütZe übrigens selbst äußerten –, ihre Eigeninteressen hintanzustellen: damit der Nachwuchs möglichst wenig von der Armut spürt. Das gelinge aber mit zunehmendem Alter der Kinder immer weniger, so Zenner-Siegmann.

»Armut braucht eine Lobby in der Politik«, schlussfolgerte sehr beeindruckt auch die SPD-Kreisvorsitzende Ronja Nothofer. Alleinerziehende Mütter leben oft an der Armutsgrenze, sagte eine Betroffene. Sie selbst sei zwangsweise »Expertin fürs Überleben« geworden. Kein Wunder, wenn Mütter von ihren Männern sitzen gelassen werden und die Kindsväter dann nicht einmal ihrer Unterhaltspflicht nachkommen?

Birgit von Vacano zeigte sich als CDU-Gemeinderatsmitglied ebenso bestürzt über die Schilderungen der betroffenen Frauen wie Cindy Holmberg als Grüne-Kreistagsmitglied. Es könne nicht sein, dass Alleinerziehende unverschuldet den sozialen Abstieg erleben müssten, so Holmberg. Da sei die Bundespolitik gefordert, um Familien mehr Geld zum Überleben zur Verfügung stellen. Und das auch angesichts eines Hartz-IV-Regelsatzes von 311 Euro für 15- bis 17-jährige Jugendliche, der sage und schreibe 33 Cent pro Monat für Bildung vorsehe, empörte sich Bettina Noack.

»Für uns als Verwaltung ist es wichtig, Frauen hier so ungezwungen zu erleben«, sagte Birgit Heinlin von der Agentur für Arbeit. Und Andrea Stiefelmeyer, Teamleiterin beim Jobcenter, gab zu bedenken: »Es gibt doch viele Hilfen, die aber kaum abgerufen werden.« Wie etwa Kleidungsgeld, wenn jemandem für ein Vorstellungsgespräch die passende Garderobe fehle. Oder auch Friseurgeld, um sich für solch ein Gespräch hübsch machen zu lassen.

»Für Nudelnwird's doch wohlnoch reichen«
Da ging ein lautes Raunen durch den MüZe-Raum. Eine Mutter entgegnete, dass sie im Jobcenter lange Zeit »um jeden Cent gebettelt« hat, um ihre Tochter durchzubringen und ihr eine Ausbildung finanzieren zu können. »Mittlerweile habe ich Angst, ins Jobcenter zu gehen.« Die Erfahrung einer anderen Mutter: »Ich habe vor 31 Jahren das Sozialamt betrogen, weil ich heimlich putzen ging, um über die Runden zu kommen.« Es sei ein permanenter Kampf gewesen, um Unterstützung für eine Ausbildung zu erhalten, berichtete die Mutter. »Ich wollte nie Geld vom Staat, aber als meine Ehe kaputt ging und ich mich um die Kinder kümmern musste, blieb mir gar nichts anderes übrig.«

Das Fazit: Gabriele Janz schlug regelmäßige Treffen im MüZe vor, damit sich Politik und Verwaltung weiter über die Situation und die Bedürfnisse von finanziell benachteiligten Müttern, Familien und Kindern informieren können – und daraus dann auch Schlüsse für die Politik ziehen. (GEA)