REUTLINGEN. Hedda Seischab hat geschulte Ohren und denen geht es gerade an Samstagabenden in Reutlingen ziemlich schlecht: »Die Lautstärke bei den Demos der Impfgegner wird jedes Mal extremer. Der Dezibelpegel ist einfach zu hoch«, sagt sie im Gespräch mit dem GEA. Die Musikerin und gelernte Musikpädagogin lebt und arbeitet in unmittelbarer Nähe des Rathauses und leidet nach eigenen Angaben zunehmend unter »Lärm, Geschrei, Getrillere und Radau«.
Denn seit mittlerweile mehreren Monaten spielt sich in nächster Nähe ihres Hauses wöchentlich dasselbe ab: Mehrere tausend Kritiker und Gegner der Corona-Maßnahmen ziehen mit Trommeln, Trillerpfeifen Musikboxen und Megaphonen durch die Straßen der Reutlingen Innenstadt und machen ihrem Ärger Luft. »Ich höre das den ganzen Abend von zwei Seiten. Einmal wenn sie am Busbahnhof starten und dann wenn sie am Marktplatz mit ihrem Demonstationszug ankommen«, beschreibt sie die Situation. Sie könne in dieser Zeit weder Musik machen noch anhören und damit auch nicht arbeiten. Empfindlich sei sie nicht: »Ich bin ja auch die Reutlinger Stadtfeste gewohnt, da ist es ja auch nicht gerade leise, aber der Lärm der samstäglichen Demos wird immer unerträglicher.«
Ein wenig gelassener nimmt Sieglinde Fausel den Geräuschpegel des samstäglichen Demonstrationszuges hin. Sie wohnt in der Wilhelmstraße, gleichzeitig die beliebte Reutlinger Fußgängerzone. An ihrem Haus ziehen die Demonstrierenden direkt vorbei. »Es ist bestimmt nicht schön, aber irgendwie habe ich mich einfach daran gewöhnt«, sagt sie im Gespräch mit dem GEA, um gleich danach nachzufragen: »Hören die damit bald mal auf?« Danach sieht es nicht aus. Das zuständige Ordnungs im Rathaus hat weitere Demonstrationen bis in den Juni auf dem Zettel.
»Die Lautstärke bei den Demos der Impfgegner wird jedes Mal extremer«
Raymond Jäger ist ebenfalls Anwohner in der Wilhelmstraße und kann sich an die Lautstärke des Demonstrationszuges nicht gewöhnen. »Das ist nicht angenehm zu der Tageszeit. Das ist ähnlich wie ein Faschingsumzug, wobei der ja nur einmal im Jahr ist.« Er habe das aber viermal im Monat vor seiner Wohnung. Der Lautstärkepegel sei bei den Demonstrationen so hoch, dass er sich bei geschlossenen Fenstern in seinen vier Wänden nicht mehr unterhalten könne. Einen Film anschauen oder Musik hören ginge ebenfalls nicht. Auch er würde sich freuen, wenn die Proteste aufhören würden, sagt er.
»Das ist ähnlich wie ein Faschingsumzug, wobei der ja nur einmal im Jahr ist.«
Für Markus Bogner, den Inhaber des Modegeschäfts Yaya in der Wilhelmstraße werden die wöchentlichen Demos und ihre Teilnehmer zunehmend zu einem echten Problem: »In den letzten vier Wochen hat dieser lautstarke Protestzug durch die Fußgängerzone uns regelrecht das Geschäft abgeschnitten. Ab 16.30 Uhr kommen so gut wie keine Kunden mehr«, berichtet er. Die Kundschaft wisse inzwischen, dass Reutlingen jeden Samstagabend zum Schauplatz für lautstarke Demos werde und würde die Einkaufsmeile schlicht meiden. »Dabei hat sich gerade die Stunde von 18 bis 19 Uhr als ziemlich umsatzstark erwiesen«, so Bogner. Jetzt sei Flaute und das sei nach der schweren Corona-Zeit für den Handel doppelt schlecht. »Hinzu kommt, dass auch schon Protestierer mit Trillerpfeifen in den Laden gekommen sind und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschimpft haben. Da ist echt eine Grenze überschritten.«
Ähnlich geht es Vasileos Gatsios, der das griechische Spezialitäten-Restaurant Diogenes in der Wilhelmstraße betreibt. »Die klopfen und schlagen an unsere Fensterscheiben, einige sind auch schon reingekommen und haben damit meine Gäste erschreckt«, berichtet er. Auch er hat geschäftlich ein Problem an mittlerweile jedem Samstagabend: »Die Gäste kommen später, weil sie wissen, es ist Demo und die Innenstadt ist dicht.« Er habe nichts gegen Demonstationen aber es sei unverständlich, dass die Protestler immer lauthals Freiheit skandierten, gleichzeitig aber in seine Freiheit als Restaurantinhaber eingriffen. Auch er hätte nichts dagegen, wenn die samstäglichen Protestzüge enden würden.
So sieht es auch Paul Sommer, Juniorchef vom Café Sommer in der Wilhelmstraße. Er schließe zwar um 18 Uhr, eben genau dann, wenn sich der samstägliche Demonstrationszug am Busbahnhof erst in Bewegung setze, dennoch habe er festgestellt, dass seine Kundschaft mit Blick auf den Samstag verunsichert sei. »Die Frequenz in der Innenstadt ist am Samstagnachmittag mittlerweile viel zu niedrig. Das ist spürbar und schadet uns auch.« Außerdem hätten seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach 18 Uhr Schwierigkeiten nach Hause zu kommen, weil die Innenstadt blockiert sei.
»Uns stört das alles nicht«, sagt dagegen Katerina Mavrodi. Sie betreibt zusammen mit ihrem Ehemann das Café Alte Bank direkt am Marktplatz. »Wir sind auch nicht so direkt betroffen, schließlich ist der Marktplatz groß, da verteilt sich die Menschenmenge besser.« Sie könne sich nicht beschweren, denn viele der Demonstrationsteilnehmer würden vorher einen Kaffee bei ihnen trinken oder eine Kleinigkeit essen, erst danach ginge es für sie zur Demo. Sie habe keinen Umsatzrückgang durch das Geschehen an den Samstagabenden zu verzeichnen. »Vielleicht wird die Situation aber anders, wenn die Terassensaison losgeht und die Menschen draußen sitzen wollen«, gibt sie zu bedenken. Sie habe nichts gegen die Demonstranten. Gleichzeitig stellt sie fest: »Wir wohnen auch in der Innenstadt und wenn der Demonstrationszug an unserem Haus vorbeizieht, ist das schon enorm laut, auch für die Hunde.«
Oliver Hohenadl, Leiter der Filiale des Modehauses Zinser in der Wilhelmstraße, ist nach mehreren Monaten Demos dazu übergegangen, am Samstagnachmittag einen Wachdienst vor den Eingängen zu postieren. Auch weil in den vergangenen Monaten Demonstranten in das Kaufhaus gekommen und laut geworden seien: »Da wurde auch getrötet«, berichtet er. »Da ist natürlich auch immer die Sorge vor einer Eskalation, auch deswegen ist der Wachdienst im Einsatz«, so Hohenadl weiter. Die Kunden blieben ab Samstagnachmittag vielfach weg. »Für den Einzelhandel in Reutlingen ist das einfach schlecht.« Ihm erschließe sich auch nicht, wieso sich gerade Reutlingen als so ein beliebter Veranstaltungsort für Corona-Demonstrationen etabliert habe. (GEA)
Wie die Stadtverwaltung Reutlingen auf die Corona-Demos reagiert
Die anhaltenden Demonstrationen von Gegnern der Corona-Politik beschäftigt auch die Stadtverwaltung Reutlingen. Im Gespräch mit dem GEA zeigte Oberbürgermeister Thomas Keck großes Verständnis für Anwohner, Geschäftsleute und Gastronomen in der Innenstadt, die zunehmend unter der samstäglichen Veranstaltung leiden. Er zeigte auch Verständnis für die Menschen, die ab dem Samstagnachmittag die Reutlinger Innenstadt meiden und einen großen Bogen um sie machen. Den Demonstrationszug kurzerhand in einen anderen Teil zu verlegen, sei aber kaum möglich. Überlegungen scheint es aber gegeben zu haben. OB Keck sagte: »Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut, in das aber nicht einfach so eingegriffen werden kann.« Abschreckendes Beispiel sei für ihn der Versuch der Stadtverwaltung Freiburg gewesen, einen Demonstrationszug in ihrer Stadt umzuleiten. »Das ist vor dem Verwaltungsgericht dort krachend gescheitert«, so Keck.
Er kündigte an, dass zumindest für die Menschen, die in der Wilhelmstraße leben, arbeiten und Geschäfte oder Lokale betreiben, eine Entlastung in Sicht ist. Wenn sich am Samstag voraussichtlich erneut einige tausend Menschen zur Corona-Demo in der Reutlinger Innenstadt versammeln, wird es erstmals eine etwas veränderte Route durch die Stadt für sie geben. Darauf verständigten sich laut OB Thomas Keck Vertreter der Stadt, die Veranstalter der Demo und die Polizei. Demnach wird der Demonstrationszug nicht wie bisher auch durch die Wilhelmstraße bis zum Marktplatz führen, sondern er wird diesen Teil der Fußgängerzone nur noch einmal queren. (GEA)