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Anwohner: »Das Reutlinger Gerberviertel verkommt«

Anwohner beklagen Müll, Randale, freche Jugendliche und offenen Drogenhandel im Quartier.

Foto: Pieth
Foto: Pieth

REUTLINGEN. Schmale Gässchen, kaum Verkehr: Das Gerberviertel hätte Potenzial, ein attraktives Altstadtviertel zu werden. Doch die Entwicklung geht aktuell sichtbar in eine andere Richtung.

Eine Initiative von gut zehn Anwohnern, Geschäftsleuten und Gastwirten wehrt sich nun gegen Auswüchse, die ihnen Leben und Arbeiten im Areal zwischen Zentralem Omnibusbahnhof und Wilhelmstraße vergällen. »Unser Gerberviertel verkommt immer mehr«, beklagt die Initiative und fordert unter anderem verstärkte Anwesenheit von Ordnungshütern. Letzten Sommer hat sich die Gruppe an Oberbürgermeister Thomas Keck gewandt. Ende des Jahres war man zusammen mit Polizei, Ordnungsamt und Jugendarbeitern im Quartier unterwegs.

»Früher ist das nicht so ausgeartet«

Keiner der Bürger möchte mit Namen in der Zeitung genannt werden. Alle fürchten Unbill, wenn man als Galionsfigur des Widerstands identifiziert wird. Die Bürger beklagen Lärm und Randale, Vermüllung und Farbschmierereien. Sie berichten von Gaststätten, in die Böller geworfen werden oder Pfefferspray hineingesprüht wird, von zerstörter Außenmöblierung, eingeworfenen Scheiben, Eierwürfen auf die Kämmerei in der Stadtbachstraße. Eine Bewohnerin erzählt, wie eine Frau von einer Gruppe von Männern verfolgt worden sei, bis sie sich in ein Auto geflüchtet und gehupt habe, um auf ihre missliche Lage aufmerksam zu machen.

Ordnungsamtsleiter Albert Keppler wünscht sich mehr Leben und Anwohner: Aber wer möchte hier wohnen? FOTOS: PIETH
Ordnungsamtsleiter Albert Keppler wünscht sich mehr Leben und Anwohner: Aber wer möchte hier wohnen? FOTOS: PIETH
Ordnungsamtsleiter Albert Keppler wünscht sich mehr Leben und Anwohner: Aber wer möchte hier wohnen? FOTOS: PIETH

Für Lärm und unerwünschten Publikumsverkehr habe ein arabischer Supermarkt gesorgt, vor dem schon mal Tüten standen, aus denen Blut getrieft habe. Er hat unterdessen zur großen Erleichterung der Quartiersbewohner zugemacht.

Man ärgert sich über rotzige Antworten und Gruppen, die die Straße für sich beanspruchen. »Fast ausschließlich Jugendliche und junge Männer mit Migrationshintergrund« seien es, sagen die Anwohner, betonen aber auch, keine Ressentiments schüren und die jungen Leute nicht vertreiben zu wollen. »Wir möchten gern in einem bunten, multikulturellen Viertel leben.« Aber eben nicht so. Manche versuchen mit den jungen Leuten – teils erfolgreich – ins Gespräch zu kommen. Das Problem sind offensichtlich auch weniger Einzelpersonen, sondern die Begegnung mit größeren Gruppen. Besonders empört die Bürger, dass am helllichten Tag auf der Straße mit Drogen gedealt wird. Die Anwohner wissen auch genau, hinter welchen Mülleimern und Hecken »Stoff« abgelegt wird, auch Geld oder Diebesgut. Dass die Polizeibehörde in der Stadtbachstraße mittendrin von alledem sitze, sei »ein Witz«.

Wann das alles losging, darüber geht die Wahrnehmung auseinander. In den letzten zwei, drei Jahren, sagt eine Gastronomin. Probleme habe es immer wieder mal gegeben, »aber nicht so ausgeartet«. Das Sicherheitsgefühl leidet. »Ich guck mich abends immer um, wenn ich hier laufe«, sagt ein junger Mann. Immer wieder ist das Jugendcafé am Federnseeplatz Thema. »Die gehen aus dem Café ’raus und prügeln sich«, sagt einer. Und: »Das ist der Anziehungspunkt.«

Das Gerberviertel sei derzeit ein »Einsatzschwerpunkt der Polizei«, verrät Michael Schlüssler, Leiter des Reutlinger Polizeireviers auf GEA-Nachfrage. Man habe Präsenz und Kontrollen in enger Abstimmung mit der Stadt seit Juli erhöht. Grund sei der Brandbrief der Bewohner, aber auch Beschwerden von Ordnungsamtsmitarbeitern, die Respektlosigkeiten beklagen, sich auch schon bedroht fühlten.

Beamte des Reutlinger Reviers und der Rauschgiftermittlungstruppe seien – uniformiert und in zivil – regelmäßig in Gerberviertel und ZOB-Bereich unterwegs, verstärkt vom Präsidium Einsatz, den Bereitschaftspolizisten aus Göppingen. Sogar eine Drohne sei schon im Einsatz gewesen. Der Fokus liege auf dem Thema Rauschgift. Bei »fast allen« Kontrollierten wird man laut Schlüssler fündig. Meist handele es sich um Marihuana zum Eigengebrauch. Die Polizei findet aber auch größere Mengen und Waffen: Messer, Schlagringe und Pfefferspray. Anlass für ein Messerverbot sieht Schlüssler nicht. Dazu seien die Fallzahlen zu gering. Und: »Wenn ich das erlasse, muss ich es auch kontrollieren.«

Die Polizei treffe auf Jugendliche und Heranwachsende »verschiedenster Nationalitäten«. Auffallend sei ihr oft »sehr respektloses Verhalten« gegen Beamte. Diese würden beleidigt, oft werde auch Widerstand geleistet, »ein gesellschaftliches Phänomen«, das allerorts zunehme. Ein Bandenwesen, das in anderen Großstädten Viertel zu No-Go-Zonen macht, kann die Polizei nicht feststellen und auch »keine Gefahr für Anwohner«.

»Die Polizei macht jetzt so richtig was. Ich hoffe, dass das für eine Weile vorhält«, wünscht sich Albert Keppler, der Leiter des Ordnungsamts. Auch er beteuert: »Die Probleme sind angekommen, wir arbeiten daran.« Der Kommunale Ordnungsdienst sei verstärkt mit Fußstreifen unterwegs.

Meist in Gruppen anzutreffen: Jugendliche am Federseeplatz.
Meist in Gruppen anzutreffen: Jugendliche am Federseeplatz. Foto: Frank Pieth
Meist in Gruppen anzutreffen: Jugendliche am Federseeplatz.
Foto: Frank Pieth

Von »Problemviertel« möchte Keppler allerdings nicht reden. Das Gerberviertel sei unauffällig in der Kriminalitätsbilanz. Allerdings fänden sich viele der genannten Probleme in keiner Statistik, weil sie schlicht nicht justiziabel seien – »aber fürs Wohnumfeld schädlich«, wie er einräumt.

Das Jugendcafé am Federnseeplatz sieht Keppler nicht als Problem, sondern als »Teil der Lösung« (Artikel unten). Aber es locke natürlich Publikum ins Viertel – mit »jugendtypischem Verhalten«, wie er großzügig verallgemeinernd anmerkt.

»Sehr respektloses Verhalten gegen Beamte«

Abseits der polizeilichen und städtischen Maßnahmen sei für eine Verbesserung der Lage wichtig, dass Menschen in der Altstadt wohnen. Daher müsse das Viertel dringend »baulich aufgewertet werden« (siehe »Drei Fragen«). »Anwohner bewegen sich, kümmern sich, bringen Qualität und Sicherheitsgefühl für andere.« Gleiches gelte für Geschäfte und Gastronomie, die sich jedoch zusehends aus dem Viertel zurückziehen. Sobald das Tageslicht schwindet, wird’s düster im Gerberviertel. Es fehle an Publikumsfrequenz, ein Phänomen, das in der Altstadt generell zu beobachten sei.

Ein Mitglied der Anwohner-Initiative, das zu Beginn der GEA-Recherchen noch viel Kampfgeist hatte, hat nach der jüngsten Schlägerei vorm Jugendcafé die Nase voll. Die Anwohnerin sieht »keine ernsthaften Bemühungen« bei Stadt und Polizei. Demnächst will sie ihren Laden nun schließen. (GEA)