SICKENHAUSEN. Zwei Meter lang und fast einen Meter breit. 1992 bekam Norbert Spanagel von einem alten Arbeitskollegen, der denselben Nachnamen hatte wie er, einen wirklich überdimensionalen Stammbaum geschenkt. Auf diesem waren die Spanagel-Vorfahren bis ins 16. Jahrhundert aufgelistet. Das fand der damals 33-Jährige so spannend, dass er seitdem – wie er zu sagen pflegt – mit dem Virus Ahnenforschung infiziert ist. Er hat sich selbst beigebracht, wie man auf Familien-Spurensuche gehen kann, wie man die richtigen Quellen anzapft, dass man hartnäckig bleiben muss und dass die Familienforschung so manch’ ein Geheimnis ans Licht bringen kann.
Stammbaum schnell erweitert
Den Ursprungsstammbaum von damals musste Spanagel, der in der Tübinger Vorstadt aufgewachsen ist, nun aber in Sickenhausen lebt, mittlerweile um vier Meter erweitern. 3.487 Personen mit dem Namen Spanagel/Spannagel umfasst seine Familiendatenbank nach 30 Jahren Forschung. Das sind 38 dicke Leitz-Ordner, voll mit sogenannten Personenstammblättern. Namen, Hochzeits-, Geburts- und Sterbedaten sind das eine. Noch viel spannender sind aber die Geschichten, auf die er gestoßen ist.
Warum sich sein Urgroßvater einst das Leben genommen hat, kann er erst seit einem Monat beantworten. Der Mann, Besitzer einer Gärtnerei, steckte damals in finanziellen Nöten. Dann ging – so hat es ihm jüngst die Cousine seines Vaters erzählt – noch eine komplette Ladung Kartoffeln kaputt. Daraufhin nahm er sich verzweifelt das Leben. Die verwitwete Uroma zog mitsamt ihrer vielen Kinder wieder zurück nach Reutlingen und eröffnete in der Wilhelmstraße einen Obst- und Gemüseladen.
Sogar Verwandte in Australien konnte der Ahnenforscher im Laufe der Jahre ausfindig machen. David Spanagel, Enkel eines 1887 aus Reutlingen ausgewanderten Spanagels, kam sogar mal zu Besuch in die Achalmstadt. Dass sich die Wege der beiden Männer gekreuzt haben, war ein riesiger Zufall, von dem der Ahnenforscher noch heute freudestrahlend erzählt. Eines seiner großen Erfolgserlebnisse. »Ich seh’ das als breitgeföchertes Hobby, das Allgemeinwissen erweitert sich unglaublich«, sagt er. Kriege, Auswanderungswellen, Hungersnöte: Was in jedem Geschichtsbuch recht allgemein erklärt wird, lässt sich auch in jeder Familiengeschichte personifiziert nachweisen.
Als im Mai 2022 eine neue Familie in die Nachbarschaft von Norbert Spanagel zieht, merkt der 63-Jährige beim Gespräch am Gartenzaun: Der nahezu halb so alte Familienvater Benjamin Rath ist ebenfalls begeisterter Ahnenforscher. Und als wärs nicht schon schön genug, finden die beiden schnell heraus, dass sie sogar einen gemeinsamen Vorfahren haben. Jakob Spannagel, 1542 geboren, taucht in den Stammbäumen beider Forscher auf. Einen Namen für ihren Verwandtschaftsgrad haben die beiden bislang allerdings noch nicht gefunden. Ist dann doch zu lange her und zu verzweigt, um’s irgendwie zu benennen.
Norbert Spanagel und Benjamin Rath stehen sich seitdem mit Rat und Tat zur Seite. Wenn der eine nicht mehr weiter kommt, hat der andere einen Tipp parat. Schon in dieser Datenbank geschaut? Schon jene Seite ausprobiert? 13.138 Menschen aus seiner Verwandtschaft hat Benjamin Rath, der eigentlich Ingenieur bei Bosch ist, erfasst. Während er sich nur mit direkten Vorfahren beschäftigt, befasst sich Spanagel mit seinem Namen in allen Facetten, mit jeder nur auffindbaren Verästelung der Familienzweige.
Geschichtsstunde vom Feinsten
Eine Weingut namens Spanagel. Spanagel-Münzen aus dem Elsass. Ein Spanagel-Haus in den Tiroler Alpen. Wenn sein Nachname auftaucht, ist der Sickenhäuser direkt angefixt und versucht, eine Verbindung zu finden. Erst neulich hat er den Namensgeber der besagten Spanagel-Hütte und dessen Vorfahren ausfindig gemacht. Diese scheinen aber seit Generationen in Wien zu leben, Verbindung nach Deutschland sind bislang nicht ersichtlich. Einen Versuch war’s wert.
Wer Ahnenforschung betreibt, der gibt sich selbst Geschichtsunterricht vom Feinsten. Wer weiß schon heute noch, was ein Teuchelbohrer mal gemacht hat? »Löcher in Baumstämme gebohrt, die dann zu Wasserleitungen wuren«, erklärt Benjamin Rath. Er sich selbst beigebracht, wie man Sütterlin-Schrift entziffert. Auch über die Todesursachen der jeweiligen Zeit hat er viel gelernt: Gichter sind Kinder, die an Krämpfen und hohem Fieber gestorben sind. Wen im Kirchenbuch »Blattern« vermerkt sind, waren Pocken die Todesursache. Tot geborene Kinder wurden mit »anonymus« gekennzeichnet.
Wenn die Kinder allerdings erst nach der Geburt starben, wurden folgende Kinder oft gleich benannt. So lange, bis eben eins überlebt hat. Heute kaum noch vorstellbar: Ehen zwischen katholischen und evangelischen Menschen waren verpönt, in manchen Gegenden absolut nicht denkbar. Spanagels mittlerweile 90-jährige Mutter hat ihm erst vor einer Weile ein trauriges Geheimnis ihrer Jugend offenbart. Sie, katholisch, hatte eine große Liebe. Er war leider evangelisch. Und so unterband ihr Vater diese Liason.
Ebenfalls kaum mehr vorstellbar: Der Name von unehelich geborenen Kindern wurden im Kirchenbuch teilweise verkehrherum geschrieben. Ein eigenes Personenblatt gab’s für Frauen nur, wenn sie verheiratet waren. Ein unehelich geborenes Kind war ein Stigma, das die Mutter kaum mehr loswerden konnte. »Das ist einfach unglaublich spannend«, fasst Benjamin Rath sein außergewöhnliches Hobby zusammen. Wie einen Schatz hütet er ein Predigtbuch seiner Ururoma aus dem Jahr 1842. Außerdem hat er zwei Verwundetenabzeichen seiner Vorfahren aus dem Ersten Weltkrieg.
Norbert Spanagel, der seine nahezu 4.000 Verwandten mittlerweile digitalisiert hat, arbeitet gerade an einem Familienbuch. Mehrere Verwandte haben Interesse geäußert, sagt er. Irgendwann will er seine Sammlung ans Stadtarchiv von Reutlingen und Ebingen weitergeben. Abgeschlossen hat er seine Forschungen aber noch lange nicht. Wer einmal mit dem Virus Ahnenforschung infiziert ist, der hört nicht mehr auf. Nach einem erforschten Familienzweig öffnet sich direkt eine neue Tür. Das unendliche Hobby, sozusagen. (GEA)