REUTLINGEN. Wenn die Abrechnung für eine Nacht vor dem Amtsgericht Reutlingen erfolgt, dann muss etwas Schlimmes passiert sein. Jetzt hat das Schöffengericht am Amtsgericht Reutlingen einen jungen Mann wegen Vergewaltigung verurteilt. Das Urteil lautet anderthalb Jahre Freiheitsstrafe, die für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Angefangen hat dieser Kriminalfall mit dem freiwilligen Zusammentreffen von zwei erwachsenen Menschen, die sich kaum kannten.
Denn getroffen haben sich die beiden über eine Dating-App. Nach einer Woche digitalen Geplauders begegnen sich der 29-jährige Täter und seine fünf Jahre ältere Internetbekanntschaft eines Nachts zufällig persönlich in einer Disco. »Kennengelernt haben wir uns eigentlich gar nicht«, sagt das Opfer im Zeugenstand. Dennoch fährt sie mit dem Mann in den frühen Morgenstunden freiwillig im eigenen Auto zu dessen Wohnung. »Ich habe mir gar nichts dabei gedacht«, bekundet sie. Offenbar auch nicht, als es direkt ins Schlafzimmer geht. Dortselbst gibt ihr der Mann Schlafklamotten. Die beiden landen im Bett, beginnen zu knutschen. Die Küsse seien, sagt die Frau vor Gericht, »voll in Ordnung gewesen«. Aber keinesfalls das, was dann passiert sei.
Im Gerichtssaal
Richter: Eberhard Hausch. Staatsanwältin: Susanne Teschner. Schöffen: Alexander Thomys und Michael Donth. Verteidiger: Achim Unden
»Nennen Sie die Dinge beim Namen«, hatte Richter Eberhard Hausch das Opfer gebeten. Genau das tut die junge Frau dann auch. Nach den einvernehmlichen Küssen habe der Mann seine Hände und Finger in einer Weise eingesetzt, die sie mehrfach klar und deutlich ablehnt. Die Rede ist von erheblich mehr als nur Berührungen auf nackter Haut, sondern auch vom Eindringen in ihren Intimbereich. »Seine Finger waren in mir drin«, erzählt sie. Womit der Straftatbestand einer Vergewaltigung erfüllt ist. Warum sie nicht den Tatort sofort verlassen hat, als sich diese Form sexueller Gewalt abzeichnete, wollen sowohl das Gericht als auch Verteidiger Achim Unden wissen.
»Das weiß ich auch nicht«, sagt das Opfer aus, »irgendwann war's dann vorbei«. Allerdings nicht ganz, denn der Angeklagte verschaffte sich dann vor ihren Augen selbst noch sexuelle Erleichterung. »Ich hätte einfach gehen sollen«, meint die Frau rückblickend. Dabei habe der Abend so schön begonnen. Um »chillen und Spaß haben« ist es gegangen. Eigentlich sei auch besprochen worden, dass einer der beiden auf dem Sofa übernachtet und nichts geschehe, was sie nicht wolle. Unerklärlich ist der ruhig und ausführlich aussagenden Geschädigten, wieso es auch nach den ersten Übergriffen noch zu weiteren Küssen gekommen ist, »vielleicht war das falsch von mir«. Könnte der Angeklagte ihr Verhalten falsch verstanden haben?
Zwei Polizeibeamtinnen, die am Morgen danach die Anzeige der Frau aufgenommen haben, bestätigen die Darstellung des Sachverhalts. Sie habe über »Schmerzen im Intimbereich geklagt«. Es sei nicht selten, dass Opfer von Sexualstraftaten »irgendetwas zurückhält, sofort zu gehen«, berichten die Ermittlerinnen. Untersucht und Spuren gesichert wurde im Klinikum am Steinenberg. Die damit beschäftigte Medizinerin spricht von »keinen offensichtlichen Verletzungen«. Die Betroffene habe »gefasst, aber verängstigt« gewirkt. Zu diesen versammelten Aussagen möchte sich der Angeklagte ebenso wenig wie zum Sachverhalt oder seiner Person äußern. Es ist sein gutes Recht zu schweigen. Für Oberstaatsanwältin Susanne Teschner ergibt sich am Ende ein schlüssiges Gesamtbild.
»Was die Frau ausgesagt hat, ist glaubwürdig«, so die Anklagevertreterin. Statt nur zu entspannen und zu plaudern, seien die beiden nicht nur direkt im Schlafzimmer gewesen, sondern der Angeklagte habe klar gegen den wiederholt eindeutig geäußerten Willen der Frau »mehr gemacht«. Für die Staatsanwältin ist »der objektive Tatbestand der Vergewaltigung auf jeden Fall erfüllt«. Angesichts der Gesamtumstände handele es sich sogar »um einen besonders schweren Fall«. Daher fordert Susanne Teschner eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Die Verteidigung ist ganz anderer Auffassung.
»Ich beantrage einen Freispruch«, betont Rechtsanwalt Achim Unden. Denn wie hätte sein Mandant das aus seiner Sicht widersprüchliche Verhalten der Frau verstehen sollen. Erst Küsse, dann »Nein« sagen, dann wieder knutschen? Der Verteidiger »kann das alles nicht nachvollziehen«. Es gebe erheblich zu viele Zweifel für eine Verurteilung. Richter Hausch und die beiden Schöffen Alexander Thomys und Michael Donth kommen zu einem verbindlichen Ergebnis.
Der Angeklagte wird wegen eines »normalen« Falles von Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, die auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wird. Das Opfer sei glaubwürdig auch dadurch, »dass sie sich nicht streng rational verhalten hat. Sie war mit der Situation überfordert«. Es ist, gibt der Vorsitzende Eberhard Hausch dem Täter mit auf den Weg, »das gute Recht jeder Frau zu sagen: Küssen will ich, aber den Rest nicht«. (GEA)