REUTLINGEN. Drei Wochen lang war das Team der Hilfsorganisation »Drei Musketiere« in der türkischen und syrischen Erdbebenregion. Drei aufwühlende, anstrengende, letztlich aber erfolgreiche Wochen. Die Helfer sind wieder zurück in Reutlingen. Doch die Bilder lassen sie nicht los, berichtet Vereinsvorsitzender Markus Brandstetter. »Die Zerstörung ist unfassbar. Man kann sich nicht vorstellen, was diese Menschen erleiden mussten.« Die Musketiere haben ihnen nicht nur Hilfsgüter gebracht, sondern auch neue Hoffnung.
Standquartier der Musketiere war ein Gelände der paramilitärischen Einheit Jandarma nahe Antakya. Die alte türkische Stadt liegt in Trümmern. Die Bewohner erzählten den Musketieren viel von den beiden gewaltigen Stößen. Menschen seien im Schlaf oder auf der Flucht durchs Treppenhaus von Gesteinsbrocken erschlagen, teilweise durchtrennt worden, so Brandstetter. »Überall sieht man noch Blutspritzer. Manche haben berichtet, dass sie nur Teile ihrer Angehörigen bergen konnten.«
»Wir müssen zielgerichtet vorgehen«
Alle hätten dem siebenköpfigen Musketier-Team – darunter auch türkisch sprechende Helfer – erzählen wollen, was passiert ist, wen sie verloren haben. »Sie zeigen einem Fotos, die man eigentlich nicht sehen will.« Hinhören, viel mit den Menschen reden – das tun die Musketiere immer bei ihren Einsätzen. »Wir sind nicht die Organisation, die wahllos Hilfsgüter verteilt oder auf Teufel komm raus viel Geld einsetzt. Das haben wir eh’ nicht, wir müssen sorgfältig planen und zielgerichtet vorgehen«, so Brandstetter,
Ziemlich schnell war den Musketieren klar, woran es den Überlebenden am meisten fehlt. Nicht unbedingt an Lebensmitteln, die werden vom Roten Halbmond fast überall verteilt. Aber an Medikamenten, Hygieneartikeln, frischem Wasser. Die Reutlinger Hilfsorganisation mit eigenem Projekt in Izmir ist gut vernetzt. Deshalb konnte sie dort das Benötigte ordern und in den Zeltsiedlungen rund um Antakya verteilen. Auch das Musketier-Team lebte in Zelten auf dem Jandarma-Camp. Ohne fließendes Wasser oder Strom, aber dafür mit, so Brandstetter, »großartiger« Unterstützung und viel Entgegenkommen des zuständigen Colonels. Ohnehin sei die Zusammenarbeit mit den türkischen Behörden so gut gewesen, wie er es noch nie erlebt habe. »Alle sind froh, dass Leute da sind, die sie in dieser schwierigen Situation unterstützen.«
»Das Wichtigste sind die Kinder«
Vom Camp aus fuhren die beiden Musketier-Teams in die entlegeneren, wenig bis gar nicht versorgten Dörfer. Wie in Antakya mit Hygienekits im Gepäck, mit Medikamenten, diesmal auch mit Lebensmittelpaketen. Und etwas ganz Besonderem: 5.000 Unterwäsche-Sets, die von den Frauen im Musketier-Nähprojekt in Izmir eigens für die obdachlos gewordenen Menschen angefertigt worden waren.
Ihre Hilfsgüter brachten die Musketiere auch nach Serinyol, einem kleinen Ort nördlich von Antakya. Auch hier eingestürzte Häuser, Verwüstung überall. Und Menschen voller Verzweiflung, ohne jegliche Hoffnung. »Die Leute waren traumatisiert, sie haben keine Perspektive mehr gesehen«, so der Eindruck von Brandstetter. Die Musketiere entschlossen sich, mit einem Team länger zu bleiben und den Bewohnern zu helfen, neuen Lebensmut zu schöpfen. Sie räumten den von Trümmern übersäten Dorfplatz frei, der vor dem Beben Treffpunkt war. Und alle packten mit an. Sie versuchten herauszufinden, was gebraucht wird. »Es kam schnell raus: das Wichtigste sind die Kinder.« Eine Kindertagesstätte sollte her, um ihrem Alltag wieder eine Struktur zu geben. Also stellten die Musketiere ein großes Zelt zur Verfügung, richteten es liebevoll ein, arbeiteten mit zwei einheimischen Lehrerinnen und einer Kindergärtnerin ein Programm für die Fünf- bis Siebenjährigen aus und organisierten die Registrierung. »Wir wollen die Bohrmaschinen liefern, die Löcher müssen sie selber bohren«, erklärt Markus Brandstetter das Konzept.
Zur Eröffnung wurde gegessen und getrunken, Teammitglied Mattia Bidoli trat mit befreundeten Clowns auf. Die Stimmung war gut. »Der Platz hat sich verändert und die Menschen auch: Wir haben ihnen Hoffnung und Energie gegeben – und die finanziellen Mittel, um die Dinge anzustoßen«, erzählt Brandstetter. Der Kontakt ist auch nach der Rückkehr eng geblieben. »Die Kita läuft, die Kinder sind superglücklich und die Mütter froh, dass sie gut aufgehoben sind und sie Zeit für andere Dinge haben.«
Mit im Boot bei der Aktion war der junge Fußballtrainer des Ortes. Er will das Training wieder aufnehmen, doch es fehlt das Equipment für die Kinder – Schuhe, Trikots, Bälle. Markus Brandstetter hat inzwischen Kontakt mit dem SSV Reutlingen und seinem Sponsor Uhlsport aufgenommen. Es sieht so aus, als ob auch hier geholfen werden könnte. Und noch ein Projekt für Serinyol ist in Planung. Die Bewohner, so die Feststellung der Musketiere, sind traumatisiert, tun sich schwer, das Erlebte zu verarbeiten. Aus ihren Reihen kam der Vorschlag, eine Anlaufstelle zu schaffen. Mit zwei ehrenamtlichen Psychologen aus dem Ort soll langfristig eine psychosoziale Betreuung aufgebaut werden. Die Musketiere wollen zwei Container beschaffen und auf dem Platz aufstellen, berichtet Brandstetter. »Aber auch das kostet Geld.«
»Es war schon auch ein Wagnis«
In den drei Wochen erlebte das Team neben all dem Schrecklichen also auch Schönes. Und, sagt Markus Brandstetter: »Wir sind schon ein bisschen stolz auf das, was wir erreicht haben.« Alles das, was sie sich vorgenommen hatten – auch den Hilfseinsatz in Syrien. Er sollte zur schwierigsten und aufregendsten Mission des erfahrenen Reutlingers werden. Im Vorfeld gab es unzählige Telefonate, unzählige Instruktionen. Zig Genehmigungen mussten her, dazu die Bürgschaft der syrischen Partnerorganisation. »Es ging ständig hin und her, es gab Verzögerungen und Absagen«, sagt Brandstetter zu den nervenaufreibenden Vorbereitungen des nicht ungefährlichen Einsatzes. Als er schon kurz davor war, alles abzubrechen, kam die Einreiseerlaubnis. Mit Mattia Bidoli machte er sich auf den Weg. »Es war schon auch ein Wagnis.« Angst habe er nicht gehabt. Aber manchmal ein mulmiges Gefühl.
Nach drei Stunden Abfertigung konnten Brandstetter und Bidoli die Grenze passieren – als erste deutsche NGO, wie ihnen die Beamten erzählten. Eskortiert von zwei Fahrzeugen der Partnerorganisation, das hintere zum Schutz, ging es nach Afrin nördlich von Aleppo, um die in Zeltstädten lebenden Erdbebenopfer mit 500 Hygienekits und anderen Hilfsgütern zu versorgen. »Die Welt verändert sich von Meter zu Meter. Man merkt, wie arm dieses Land und wie viel kaputt ist«, schildert Brandstetter seine ersten Eindrücke. Nach vielen Einsätzen in den Flüchtlingssiedlungen im türkisch-syrischen Grenzgebiet wollte er schon immer die Menschen in Syrien selbst unterstützen. So gesehen, sagt er, »ist für mich ein Traum wahr geworden«.
AUF SPENDEN ANGEWIESEN
Der Reutlinger Hilfsverein »Drei Musketiere« finanziert seine Einsätze ausschließlich über Spenden. Wer die Arbeit unterstützen will, kann das über folgendes Konto tun: Drei Musketiere Reutlingen e. V., KSK Reutlingen IBAN: DE97 6405 0000 0100 1027 43 BIC: SOLADES1REU. (GEA)
Rein optisch hat das Erdbeben in Afrin nicht ganz so verheerende Spuren wie in der Türkei hinterlassen, schon weil die Häuser allenfalls zweistöckig sind. Aber die Menschen, so Brandstetter, leiden dort in mehrfacher Hinsicht. Durch das Erdbeben, durch die Armut und weil dort nur wenige Hilfsgüter ankommen. Die Einheimischen erlebte der Reutlinger als »unfassbar nett«. Große Dankbarkeit sei den Helfern entgegengeschlagen, die die gar nicht wollen. »Das ist doch unsere Aufgabe, unsere Pflicht. Da ist kein Dank nötig.« Die beiden brachten ihre Hygienepakete auch in eine kleine orthopädische Praxis, in der ein Arzt ehrenamtlich Kriegsopfer versorgt, die Beine oder Arme verloren haben. Prothesen sind in Syrien Mangelware, es gibt nur veraltete, Armprothesen gar nicht. »Wir wollen«, kündigt Markus Brandstetter an, »weitermachen in Syrien.« Und in der Praxis: Er will nach Möglichkeiten suchen, Armprothesen dorthin zu bringen.
Viele neue Pläne also. Schon im Mai wird Brandstetter wieder in die türkische und syrische Erdbebenregion reisen. »Für Menschen in Not« ist das Motto der Musketiere. In zwei Wochen ist ein weiterer Hilfseinsatz in der Ukraine dran. (GEA)