REUTLINGEN. Wer steht denn da auf dem Selfie neben Formel-1-Weltmeister Michael Schumacher? Tatsächlich, es ist der Reutlinger Frank Glaunsinger. Manche kennen den Mann als Gemeinde- und Kreisrat der CDU, andere begegnen ihm möglicherweise in seiner beruflichen Funktion als Notfallsanitäter in der Region. Es ist dieser lebensrettende Beruf, der dem in Bronnweiler lebenden Gönninger einen einmaligen Job am Hockenheimring verschafft hat. Glaunsinger dreht wie ein Achtzylinder hoch, wenn er davon erzählt.
Mit Benzin im Blut bittet Glaunsinger in sein »Rennstüble«. Wo andere nur einen Partyraum besitzen, hat der 59-Jährige ein halbes Stockwerk seines Elternhauses in ein riesiges Formel-1-Fotoalbum verwandelt. An den Wänden hängen viele, die mit Vollgas im Kreis gefahren sind, und für ein Foto mit ihm mal kurz einen Boxenstopp gemacht haben. Unfassbar, mit wem er alles vor der Kamera gestanden ist.
Der erste Platz an der Wand und im Gedächtnis gehört ganz klar Michael Schumacher, dem so tragisch nach seinem Skiunfall vor zehn Jahren aus dem öffentlichen Leben verschwundenen mehrfachen deutschen Formel-1-Weltmeister. »Schumacher war ein exzellenter Fahrer. Der hat immer noch gearbeitet, wenn andere schon lange nicht mehr in der Boxengasse gewesen sind und weg waren«, erinnert sich Glaunsinger mit leuchtenden Augen. Entstanden ist das wertvolle Doppelporträt 2008, als der Reutlinger bereits seit einem Jahrzehnt ein Teil im Medical Team am Hockenheimring ist. Da kommt nicht jeder so einfach hin. Er hat’s durch einen Zufall geschafft.
Als auf dem Kalender 1996 steht, besucht Notfallsanitäter Glaunsinger eine Fortbildung in Bremen, die ihn erheblich weiter fortbringt, als er jemals zu träumen wagte. »Da traf ich den damaligen Einsatzleiter des Medical Team«, erzählt die 1964 in Gönningen geborene Frohnatur. Man versteht sich bestens, »und eines schönen Tages hat er mich angesprochen, ob ich denn nicht Interesse hätte, im Team mitzumachen«. Was für eine Frage, jedoch kommt sie 1997 zunächst etwas unpassend.
In diesem Jahr heiratet Glaunsinger seine Frau Sabine, baut in Reutlingen eine neue Ausbildungsabteilung für Rettungsassistenten auf, hat folglich eigentlich keine Zeit für einen weiteren Job an der Rennstrecke. Aber im folgenden Jahr 1998 beginnt sein Engagement im vom Kreisverband Mannheim des Deutschen Roten Kreuzes verantworteten Medical Team am Hockenheimring, später dann auch am Nürburgring. Glaunsinger lernt bis zu seinem freiwilligen Abschied 2020 eine Welt kennen, in der auch die medizinische Vorsorge absolute Spitzenklasse ist.
»Das Medical Team ist die Bezeichnung für die Gesamtheit aller am Ring eingesetzten medizinischen Einsatzkräfte«, erklärt Glaunsinger, »aber nur innerhalb der Rennstrecke«. Bei einem Lauf der Deutschen Tourenwagen Meisterschaft (DTM) hat es eine Größe von 25 Menschen, bei der Formel 1 sind es teilweise bis zu 50 Fachkräfte vom Notarzt bis zum Sanitäter. Außerhalb des Asphaltkurses, beim Publikum, seien weit mehr Helfer im Einsatz, das müsse man wissen. Zum Medical Team gehören zunächst Experten für die Bergung, weil Rennwagen anders als normale Autos gebaut sind.
»Eingeklemmte Fahrer sieht man im Rennsport eigentlich nicht, weil sich das hochstabile Cockpit kaum verformt«, sagt Glaunsinger. Kinderleicht ist die Bergung nach Unfällen dennoch keinesfalls, denn der Patient muss vorbei am Überrollkäfig oder aus einem engen Monocoque möglichst schnell raus, ohne dass sich sein Körper verbiegt. Das »Extrication Team« (Befreiungsteam) übt die Bergung deswegen reihum in allen Fahrzeugen. Es geht um Sekunden, denn das Verletzungsbild im Rennsport sieht ebenfalls ganz anders als bei normalen Unfallopfern aus.
»Wir sprechen da eigentlich immer von Hochgeschwindigkeits-Traumata«, beschreibt der Reutlinger Notfallsanitäter die Folgen von Einschlägen in Reifenstapeln oder Abflügen in die Leitplanken, bei denen dem Zuschauer der Atem stockt. Übersetzt bedeutet dies, dass ein äußerlich unverletzter Mensch innerlich oder an der Wirbelsäule lebensbedrohliche Schäden durch die extremen Verzögerungen erleiden kann. Deswegen kommt jeder Fahrer schnellstmöglich zur Untersuchung in das Medical Center, eine Art Mini-Klinik direkt an der Rennstrecke. Im Zweifel geht es sofort mit einem immer bereitstehenden Hubschrauber in die nächste Klinik. Und was ist mit der Absicherung der Boxengasse?
Hier warten Sanitäter mit einer Trage, auf der ihre Gerätschaften stehen, um im Notfall die paar Meter zum Unfallort zu joggen – ein Rettungswagen würde länger brauchen, steht aber auf Abruf bereit. Glaunsinger ist sowohl bei den Teams an der Rennstrecke als auch in der Boxengasse im Einsatz. Zwischen Reifenstapeln und auf ihre Rennwagen wartenden Mechaniker entstehen die meisten seiner insgesamt 1.600 Fotos. Sie zeigen ihn mit Rennsportlegenden und Prominenten.
»Schumi hat noch gearbeitet, wenn andere schon weg waren«
Ja da schau her, der Niki mit Nachnamen Lauda steht gelassen lächelnd neben dem Reutlinger. Genau der Mann, nach dessen Feuerunfall 1976 auf dem Nürburgring die Sicherheitsmaßnahmen in der Formel 1 wesentlich verbessert worden sind. Vielleicht ist er deshalb so locker drauf, wenn er einen Rettungssanitäter trifft. Glaunsinger beschreibt die Begegnungen mit großen Namen als Teil des Rennzirkus’, bei dem irgendwie alle eine große Familie darstellen. Die Promis sind nahbar.
Selbst der millionenschwere und stets verkniffen aus der Wäsche blickende »Mr. Formula 1« Bernie Ecclestone lässt ein Selfie mit Glaunsinger machen. Der britische Rennfahrer David Coulthard steht ebenfalls mal kurz neben ihm, ebenso Audi-Pilot René Rast oder Mercedes-Fahrer Mika Häkkinen. Dazu kommen zahlreiche Prominente, die sich auf Einladung der Teams gerne die mit Reifenabrieb und Benzin angereicherte Luft um die Nase wehen lassen: Showmaster Thomas Gottschalk, der Stuttgarter Tatort-Komissar Richy Müller, der jüngst verstorbene Franz Beckenbauer und Boxer Henry Maske. Diese Welt gefällt dem Reutlinger.
»Geschwindigkeit, Präzision und Können haben mich gereizt«
»Das Besondere hat mich gereizt: Geschwindigkeit, Präzision und Können«, sagt Glaunsinger, »wenn man die Fights auf der Strecke und in der Boxengasse sieht«. Im Gegensatz zum Image des Rennsports sei die Realität aber ganz anders. Nein, Champagner sei jenseits der Siegerehrung nicht in Strömen geflossen. Nein, sogenannte »Boxenluder« habe es zu seinen Zeiten nicht gegeben – höchstens ein paar Frauen in reizender Bekleidung als Darstellerinnen für Werbekunden.
Respektvoll spricht er von den Männern und Frauen im Cockpit. »Das sind hoch konzentrierte Sportler, die ihren Job machen«, betont Glaunsinger. Bei den Profis passiere auch im Vergleich zu den »Touristen« genannten Hobbyfahrern auf der Piste so gut wie nichts. Unfallträchtig seien stets die Motorradrennen gewesen. An zwei Einsätze kann er sich erinnern: »Da habe ich Heinz-Harald Frentzen nach einem Aufprall im Reifenstapel versorgt – letztlich hatte er nur eine Gehirnerschütterung«. Vollkommen unverletzt seien Jacques Villeneuve und Jos Verstappen vor ihm im Krankenwagen gesessen. Gesprächig oder gut gelaunt waren die beiden trotzdem nicht: Sie hatte ihre teuren Rennwagen zerlegt. (GEA)