REUTLINGEN. »Als ich heute Morgen an der Balkontür stand, traute ich meinen Augen nicht: Da kletterte ein grüner Papagei auf meinem Apfelbaum herum«, schrieb Siegfried Hagenlocher aus Betzingen in einer Mail und schickte gleich Schnappschüsse vom Vogel an den GEA. Das Tier sei davon geflogen, schien jedoch den Ausflug in den Betzinger Garten nicht alleine unternommen zu haben: »Ich schaute ihm hinterher und entdeckte auf dem daneben stehenden Kirschbaum einen weiteren grünen Papagei«, so Hagenlocher. Dieses Tier habe er schließlich noch schnell fotografieren können, bevor das exotische Federvieh ebenfalls davongeflattert sei.
Er frage sich natürlich, wie solche Papageien überhaupt in seinen Garten nach Betzingen finden konnten. Beim genauen Betrachten seiner Fotos in der GEA-Redaktion fiel auf, dass der abgelichtete Vogel doch sehr den Gelbkopfamazonen ähnelte, die sich seit fast vierzig Jahren in Stuttgart-Bad Cannstatt heimisch fühlen.
»Das sind ganz bestimmt Vögel aus unserer Stuttgarter Kolonie, da bin ich mir hundertprozentig sicher«
Ein Anruf beim Freundeskreis Stuttgarter Amazonen e.V. und seiner Vorsitzenden Bianca Hahn brachte überraschende Erkenntnisse: »Das sind ganz bestimmt Vögel aus unserer Stuttgarter Kolonie, da bin ich mir hundertprozentig sicher. Die können so weit fliegen. Wahrscheinlich sind es Jungtiere, die sich in der Region umsehen. Vielleicht nach einem neuen Revier.« Die Natur richte dieses Verhalten so ein, um eine Population vor Inzest zu schützen. Von Stuttgart-Bad Cannstatt sind es etwa 40 Kilometer Entfernung.
Ausreißer aus der Kolonie in Stuttgart-Bad Cannstatt seien auch zuvor schon in Heilbronn, Göppingen, Leonberg oder Ludwigsburg gesehen worden und tatsächlich bereits vor einigen Tagen in Betzingen. Ob sie allerdings eine neue Amazonenkolonie in Reutlingen gründen, sei völlig offen. Deshalb würde sie sich über mehr Belegfotos von den beiden freuen, falls sie in Betzingen wieder gesichtet werden. Hahn kann den Kreis der Ausreißer nach Betzingen mittlerweile auf vier Tiere aus der Stuttgarter Population eingrenzen.
Die beiden hätten noch keine Namen bekommen, so wie viele andere der etwa 65 Amazonen, die in der Nähe der Stuttgarter Wilhelma leben - und das seit 1986. Alle zusammen bilden seither eine stabile Population und trotzdem selbst kalten Wintern. Dort heißen die Vögel beispielsweise Quetzi, Thelma oder Kirke. Hahn kennt sie alle.
Die Papageienart gilt nicht als sogenannte invasive Art, weil sie nicht bedrohlich ist für hier heimische Vogelarten. Sie breiten sich nicht aus wie Nilgänse, die andere Wasservögel zunehmend verdrängen. Konkurrenten seien sie lediglich für Dohlen, Spechten und Hohltauben bei der Suche nach Bruthöhlen in alten Bäumen, so der Biologe Michael Braun.
Ursprünglich stammen die Papageien aus Mexiko. Dort bewohnen die Gelbkopfamazonen offene Trockenwälder mit Büschen und manchmal auch den etwas feuchten Küstenwald. Sie stehen unter strengem Artenschutz. Laut dem Freundeskreis Stuttgarter Amazonen soll es dort nur noch etwa 2.000 Exemplare geben. Die Population in Bad Cannstatt hatte sich nach 1984 aus einem entflogenen Tier entwickelt, für das Tierschützer Mitleid empfunden hatten, deshalb eine weitere Amazone kauften und diese freiließen. So soll die Grundlage geschaffen worden sein.
Kolonien von Papageienvögeln oder Sittichen gibt es neben Stuttgart auch in Düsseldorf, Köln und Heidelberg. Vielleicht auch bald eine in Reutlingen? (GEA)