REUTLINGEN. »Die Stimmung in der Unternehmerschaft ist derzeit nicht gut«, sagt Christian Otto Erbe im Gespräch mit dem GEA. Der Präsident der Industrie- und Handelskammer (IHK) Reutlingen hört viele Klagen aus den Betrieben über die aktuelle wirtschaftliche Lage. »Auch der Blick nach vorne ist nicht sehr optimistisch«, fügt Erbe hinzu. Seine Empfehlungen an die Politik: Entbürokratisierung, eine Industriestrategie und Steuersenkungen. Er beklagt indes »großes Desinteresse und Unverständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge durch die Politik«.
Mitte Oktober will die IHK Reutlingen die Ergebnisse einer bis Freitag, 27. September 2024, laufenden Konjunkturumfrage vorstellen. Erbe, 63, kommt viel herum und kann deshalb die Situation schon jetzt gut beschreiben. Er ist im Hauptberuf geschäftsführender Gesellschafter in fünfter Generation des seit 1851 bestehenden Tübinger Familienunternehmens Erbe Elektromedizin mit weltweit 2.000 Beschäftigten. Zuletzt war er dienstlich in Spanien, China und Polen unterwegs. Ehrenamtlich steht er seit 2010 als Präsident der IHK Reutlingen (44.000 Mitgliedsunternehmen) und seit 2022 als Präsident dem Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertag (650.000 Mitgliedsunternehmen), also der Vereinigung der zwölf IHKn im Südwesten, vor. Er trifft daher regelmäßig viele Unternehmerkollegen.
»Im Ausland funktioniert Wirtschaft aktuell besser als bei uns. Wir sind zwar ein starkes Land, verlieren aber halt an Boden«, stellt Erbe fest. Andernorts sei die Dynamik höher: »Die sind positiver gestimmt und nicht so jammernd wie wir.« Als »besorgniserregend« stuft er die starken Auftragsrückgänge in der deutschen Industrie ein.
In der Folge entspanne sich gerade die Sache mit dem Fachkräftemangel aufgrund der Bevölkerungsentwicklung. Dagegen steige (im Jahresvergleich) die Arbeitslosenquote. »Es gibt einige Unternehmer, die kurzfristig sagen, wir müssen ans Personal. Und es gibt andere, die ihre Investitionen in Deutschland zugunsten anderer Standorte zurückfahren«, erklärt der IHK-Präsident. Er warnt davor, diesen Befund zu ignorieren und dringt darauf, der eingesetzten De-Industrialisierung hierzulande entgegenzuwirken.
Appell an Gemeinderäte
Als Körperschaften des öffentlichen Rechts träten Industrie- und Handelskammern eher besonnen und weniger polternd auf als etwa der Arbeitgeber- oder der Industrieverband (BDA und BDI), merkt Erbe an. Dennoch trägt er die Forderungen der IHK-Organisation bestimmt vor. So seien beim Bürokratieabbau viel größere Schritte nötig, als die Bundesregierung bei diesem Thema gehen wolle. »Da geht viel Arbeitszeit drauf, die für das Kerngeschäft in den Unternehmen fehlt. Es schmerzt, ungeheure Summen in nicht produktive Bereiche reinstecken zu müssen – zumal die erhobenen Daten oft gar keinen Zweck erfüllen«, sagt Erbe.
Konkret verlangt er Änderungen bei Berichts- und Dokumentationspflichten, die vor allem für kleinere Unternehmen »erdrückend« seien. Zudem sollte für (Bau-)Genehmigungsverfahren gelten: »Wenn in einem bestimmten Zeitfenster nicht entschieden ist, gilt ein Antrag als genehmigt.« Die Pflicht zu Schriftformen sollte eingeschränkt. Elektronische Formen sollten bevorzugt werden.
Erbe spricht sich dafür aus, eine Industriestrategie zu erarbeiten: »Die gibt's nicht im Land, nicht im Bund und in der EU auch nicht. Wenn ich keine Strategie habe, wie kann ich da Maßnahmen definieren?«
Er beklagt »die im internationalen Vergleich hohen Steuerlasten für Unternehmen in Deutschland«. Es sei dabei zu hinterfragen, wie effektiv die Steuern eingesetzt würden. Erbe zufolge schauten die staatlichen Entscheidungsträger in Deutschland zu sehr auf die Einnahmen und zu wenig auf mögliche Einsparungen bei den Ausgaben: »Unternehmen blicken, denke ich, genauer auf ihre Kosten als Verwaltungsleute und Politiker.«
In diesem Zusammenhang appelliert der IHK-Präsident an die Gemeinderäte in den 66 Kommunen des Reutlinger Kammerbezirks (Landkreise Reutlingen, Tübingen und Zollernalb), die in diesem Herbst die Hebesätze für die reformierte Grundsteuer festzulegen haben: »Die Unternehmen sind durch die schwierige wirtschaftliche Lage und die hohen Energiekosten sehr belastet. Eine Steuererhöhung durch die Hintertür lehnen wir ab.« Ähnlich wie bei der Gewerbesteuer verfolge die IHK die Entwicklungen bei der Grundsteuer aufmerksam.
Firmen bieten Wohnraum an
Erbe bedauert, dass das Thema Wirtschaft in Politik und Gesellschaft »nicht interessiert« und als »langweilig« erachtet oder »nicht verstanden« werde. »Das ist zum Beispiel in den USA anders, weil das gesamte Rentensystem dort anders aufgebaut ist und etwa den regelmäßigen Blick auf Aktienkurse nahelegt.« Hierzulande suche die Politik nur selten den Rat bei Wirtschaftsorganisationen: »Es wird oft an der Wirtschaft vorbei entschieden.«
Auf GEA-Nachfrage blickt Erbe indes auch kritisch aufs eigene Lager: »Unternehmer könnten noch innovativer werden. Das ist der Schlüssel für unsere Zukunft.« Er rät zur besseren Vernetzung, »um voneinander zu lernen«. Manche Geschäftsführer könnten vielleicht auch etwas moderater und dadurch vorbildlicher auftreten, so Erbe: »Unternehmer sollten dadurch auffallen, dass sie Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen und in der Region investieren.« Um ihre Attraktivität als Arbeitgeber zu erhöhen und einen Beitrag zur Lösung eines großen gesellschaftlichen Problems zu leisten, könnten Unternehmer Mitarbeiterwohnungen anbieten.
Erbe Elektromedizin habe unter den etwa 900 Beschäftigten am Stammsitz in Tübingen und im Werk Rangendingen (Zollernalbkreis) großes Interesse von etwa 200 Mitarbeitern an entsprechenden Projekten erfahren, berichtet Christian Erbe. »Daher projektieren wir gerade ein Haus in Rangendingen mit 20 Wohnungen und prüfen ein zweites Investment dort. In Tübingen sind die Grundstückspreise leider zu hoch.« Er wisse von Bauträgern, die mit anderen Unternehmern in entsprechenden Gesprächen seien, berichtet Erbe: »Ein Förderprogramm des Landes ist dafür ein wichtiger Impuls.«
Als große Herausforderung sieht der IHK-Präsident die Klärung der Unternehmensnachfolge in zahlreichen Betrieben an: »Etwa ein Drittel der Firmeninhaber ist über 60 Jahre alt.« Bundesweit stünden 250.000 Unternehmen deswegen möglicherweise vor dem Aus, in Baden-Württemberg 27.000. Oft schreckten die schlechten Rahmenbedingungen von einem Gang in die Selbstständigkeit ab. Immerhin gab es im Bezirk der IHK Reutlingen im vergangenen Jahr mehr Gewerbeanmeldungen (3.808) als -abmeldungen (3.615). (GEA)