MELCHINGEN. Luise Rosina Riepert war die erste Frau der Familie von Hannegret Bausinger, die das Adventsgebäck in Form von Tannenzapfen gebacken hat. Bis dahin lässt sich zurückverfolgen, was im Advent auf den Tisch beim Adventskaffee kam. Das wird im 19. Jahrhundert gewesen sein. Die Familie hatte Weinberge am Georgenberg. Tochter Elisabeth erbte das Rezept, gab es an ihre Tochter Margarete, Hannegret Bausingers Mutter, weiter, diese ebenfalls an ihre Tochter. Die außergewöhnlichen alten Backformen aber gingen in den Besitz von Hannegret Bausingers Nichte über, die die Zapfen in fünfter Generation backt.
Die Zutaten für den Teig sind zwar nicht außergewöhnlich, auch ihn zuzubereiten stellt keine Riesen-Herausforderung dar. Einmal angerührt könnte man ihn auch in anderen Backbehältnissen in den Ofen schieben. Bei der richtigen Temperatur und Backzeit wird er auch so zu einem gelungenen Kuchen. »Aber es schmeckt nicht wie Tannenzapfen, wenn das Gebäck nicht die richtige Form hat«, sagt Hannegret Bausinger. Die metallenen Backformen und noch einige weitere Zugaben, die nicht in einem Rezeptbuch stehen würden, machen das Adventsgebäck erst zum richtigen vorweihnachtlichen Genuss.
Ein Glücksfall führte Hannegret Bausinger vor einigen Jahren vor das Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts in Calw. Dort fiel ihr Blick auf silberfarbene Objekte. Sie traute ihren Augen nicht: In der Auslage hatte sie genaue Gegenstücke zu den Tannenzapfen-Backformen ihrer Mutter erspäht. Also nichts wie hinein in den Laden. Überglücklich und mit nun 13 eigenen Förmchen verließ Hannegret Bausinger das Geschäft. Seither duftet es in ihrem Haus wieder nach Kindheit.

Gebacken wurden die Tannenzapfen immer ein paar Tage vor dem ersten Advent. Davon genascht werden durfte vorher nicht. Erst am vierten Sonntag vor Weihnachten wurde sich beim Nachmittagskaffee mit Tannenzapfen, auch anderem Gebäck, mit Musik, Gesang und Vorlesen von Geschichten auf Advent - was »Ankunft« bedeutet - vorbereitet. Vorfreude, so ist es im Advent und mit den Tannenzapfen, ist doch die schönste Freude. Waren die Tannenzapfen vor Weihnachten verspeist, wurde zum Heiligen Abend noch einmal Nachschub gebacken. Aber als Hannegret Bausinger Kind war, gab es die Tannenzapfen nur in homöopathischen Dosen. Sie wurden aufgeschnitten, und sie und ihre Schwestern erhielten maximal ein halbes Gebäckstück. »Davon ist man als Kind schon satt«, der Teig ist reichhaltig.

»Ich liebe Traditionen, alte Kunstwerke, Fachwerk, alte Möbel«, sagt Hannegret Bausinger. In ihrer Küche hat sie alte Küchenutensilien, Kaffeemühle, Waffeleisen, im Stüble, das sie im Advent jahreszeitlich dekoriert und wohin sie zu Apfelpunsch und Beisammensein einlädt, ein altes Schaukelpferd, Möbel, Silber. Denn Sinn fürs Schöne und Dekorative hat sie wohl von ihrer Mutter geerbt, die als Gärtnerstochter immer einen riesigen Adventskranz mit roten Kerzen und Bändern gebunden hatte.
So begeht Hannegret Bausinger die Advents- und Weihnachtszeit immer auch im Gedenken an die Vorfahren, die schwere Zeiten durch- und überlebt haben, aber viel wussten und einen großen Erfahrungsschatz an ihre Kinder weitergaben. Über die Konservierung von Lebensmitteln für den Winter. Über die Natur. Über die Verwendung wild wachsender Kräuter und Pflanzen. Nicht umsonst fließt viel davon in Hannegret Bausingers Arbeit, sie ist Krankenschwester und hat seit 2005 in Melchingen ihre eigene Gesundheitspraxis, sie bietet Heilkräuterführungen und -seminare an. Vielleicht ist ihr Interesse für den Kreislauf der Natur, ganzheitliche Gesundheitsansätze, für Heilpflanzen in die Wiege gelegt worden: Als Hausgeburt erblickte sie im Grünen Weg in Sondelfingen das Licht der Welt. Wenn das kein Omen war!
Die Besinnung auf die Zeit, auf sich, darauf, worauf es ankommt, auf Wichtiges und Wertigkeit - im Leben und bei Dingen: Das gehört für Hannegret Bausinger zum Advent. Ebenso unerlässlich sind die Tannenzapfen nach traditionellem Rezept. Das soll ein Familiengeheimnis bleiben, aber so viel darf man verraten: In den Teig kommen nur gute Zutaten. Begonnen beim Mehl - Hannegret Bausinger schwört auf Dinkel -, über Eier, Butter, Zucker. Echte Vanille kommt hinein, Rum - kein Aroma - für eine feine Note, Orangenschale und etwas -saft.
Orangen mögen die Vorfahrinnen vielleicht nicht verwendet haben, Hannegret Bausinger hat den Teig aber etwas verfeinert und weiterentwickelt, das darf trotz Tradition sein, ohne diese zu verlassen. Und es gibt ein paar Tricks bei der Zubereitung: Der Teig muss lange gerührt werden, »umso lockerer werden die Tannenzapfen«, die Förmchen müssen gut mit zerlassener Butter ausgefettet und dürfen nicht ganz bis zum Rand gefüllt werden. Denn der Teig geht im vorgeheizten Backofen noch auf. Hannegret Bausinger musste etwas tüfteln, bis ihr die Tannenzapfen so gelangen, wie sie bei der Mutter schmeckten. »Meine ersten waren zu trocken.« Sie müssen zwar gut durchgebacken sein, die Stäbchenprobe hilft, das zu kontrollieren. Trotzdem soll das Gebäck saftig bleiben.
Direkt nach der Backzeit löst Hannegret Bausinger die kleinen Gebäckteile noch warm aus den Förmchen und lässt sie am besten über Nacht auf einem Kuchengitter auskühlen. Dann erwärmt sie Kuvertüre und bepinselt die Tannenzapfen damit. Fertig. »Mir würde nie einfallen, sie noch mit Puderzucker oder etwas anderem zu verzieren«, sagt sie. Das Backwerk besticht durch schlichte Schönheit, durch besondere Konsistenz und seinen Geschmack. Ein wenig erinnert er an Baumkuchen, und doch ist er ganz einzigartig, mit nichts zu vergleichen. Auch bei der Aufbewahrung gilt es, einiges zu beachten: Die Tannenzapfen dürfen nicht zu trocken, aber auch nicht feucht werden. Deswegen legt Hannegret Bausinger nicht zu viele Gebäckstücke in Metalldosen.
Neben besten Zutaten steckt noch etwas anderes in den Tannenzapfen: Die Energie der Bäckerin, die sich in der Küche beim Zubereiten ihrer Kindheitstage, der Mutter und der Vorfahrinnen erinnert. Die an die Pakete mit Tannenzapfen denkt, die ihre Mutter an die in Deutschland verstreute Verwandtschaft schickte. »Die wurden von allen immer sehnlichst erwartet.« Sogar bis nach Wien zu einem Onkel von Hannegret Bausinger machten sich die Tannenzapfen auf die Reise. Noch heute, als 80-Jähriger, schwärme er von dem Gebäck und freue sich über den süßen Adventsgruß von der Alb.
Sind die (Reutlinger) Tannenzapfen, die mit Hannegret Bausinger nun auch auf der Alb zu Hause sind, nur in ihrer Familie bekannt? Diese Frage stellt sie sich seit Langem, hat sie das Gebäck doch noch in keinem anderen Haushalt gesehen. »Aber ich bin sicher, dass es die Tannenzapfen auch bei anderen Familien gab, die Backformen wurden ja nicht exklusiv nur für uns Familie gemacht.« Ihre Recherchen blieben aber bis jetzt ergebnislos. »Mich würde interessieren, wer die Tannenzapfen kennt und auch noch alte Formen hat.« Für Hannegret Bausinger gehören die Tannenzapfen in eine Reihe mit anderen Reutlinger Traditionsgebäcken wie Kimmicher oder die Mutschel. Vor allem sind sie aber der Bezug zur Heimat, zu den Wurzeln. Und so duftet es jahrein, jahraus zur Vorweihnachtszeit nach Kindheit, Tradition, Erinnerungen, die bis in die fünfte Generation hineinwirken. (GEA)