MÜNSINGEN/ENGSTINGEN. »Versuchen Sie, das möglichst schnell zu klären, zum Wohl des Kindes.« Gut gemeinte Worte von Joachim Stahl, dem Direktor des Amtsgerichts Münsingen, der kurz zuvor ein Verfahren wegen einer Ordnungswidrigkeit eingestellt hatte. Im vorliegenden Fall wurde einem Vater und einer Mutter vom Ordnungsamt vorgeworfen, die Schulpflicht ihres siebenjährigen Sohnes verletzt zu haben, weshalb sie jeweils 100 Euro zu bezahlen gehabt hätten. Während der eineinhalbstündigen Verhandlung stellte sich jedoch heraus, dass der Fall anders gelagert war, als im Bußgeldbescheid beschrieben.
Der Erstklässler war Mitte September vergangenen Jahres in der Freien Waldorfschule in Engstingen eingeschult worden. Nach drei Wochen Unterricht im »Draußen-Bereich« erhielten die Eltern für ihr Kind ein »Teilnahmeverbot am Unterricht«. Die Begründung: Der Sohnemann trage keine Maske und verweigere den verpflichtenden Corona-Test.
Daraufhin übermittelten die Erziehungsberechtigten der Schule ein ärztliches Attest, in dem zu lesen stand, dass der Filius aus medizinischen Gründen von der Maskenpflicht befreit sei. Dieses Attest wurde jedoch von der Schule sowie von der Schulaufsichtsbehörde des Regierungspräsidiums (RP) Tübingen nicht anerkannt.
Schulleiterin Andrea Heyne-Huck bestätigte dem Richter, dass das RP die Atteste überprüfe und diese Bescheinigung im vorliegenden Fall abgelehnt habe, da sie »nicht valide« gewesen sei. Begründung: Das Attest der behandelnden Ärztin habe »nahezu den identischen Wortlaut« wie bei Krankmeldungen anderer Kinder verwendet. »Deshalb wurde es abgelehnt und dem Sohn der Besuch der Schule untersagt.« Seitdem wird der Siebenjährige von den Eltern unterrichtet, die die Unterrichtsmaterialien von der Klassenlehrerin übermittelt bekommen.
»Die Eltern würden ihren Sohn gerne in die Schule schicken, sie dürfen aber nicht«, wetterte Rechtsanwalt Tilo Rittinger. Er warf der Schulleitung vor, das Verbot nicht schriftlich übermittelt zu haben. Bei einem Verwaltungsakt hätte man sofort Rechtsmittel einlegen können. Die Schulleiterin winkte ab. Eine Privatschule dürfe keinen Verwaltungsakt erlassen, klärte sie den Rechtsbeistand auf.
Spucktests von der Gemeinde
Das Regierungspräsidium stehe der Politik näher als dem Gesetzbuch, ärgerte sich der Rechtsanwalt, der nach eigenen Angaben bereits ähnliche Fälle zu bearbeiten hatte. Die Schulen müssten ausbaden, was in Stuttgart entschieden werde, fügte er hinzu. Es könne nicht angehen, dass das RP ärztliche Gutachten anzweifele. Er sprach deshalb von einer »konterkarierten Entscheidung«.
Richter Stahl räumte ein, dass manche Vorschriften mit heißer Nadel gestrickt seien. Er regte an, ein neues Attest bezüglich der Befreiung von der Maskenpflicht, das kürzlich erstellt wurde, der Waldorfschule zu schicken. Dann könne die Schulleitung dies dem RP vorlegen und die Entscheidung aus Tübingen an die Eltern weiterleiten.
Außerdem könne die Schule die Gemeindeverwaltung, welche die Corona-Schnelltests zur Verfügung stellt, bitten, nicht nur nasale Antigentests, sondern auch Spucktests zur Verfügung zu stellen. Denn nach Angaben des Vaters und der Mutter, die beide nach Aussage ihres Rechtsbeistandes »maskenbereit« seien, dürfe ihr Sohn aus medizinischen Gründen keinen Test mit Stäbchen in der Nase machen.
Ein Vorschlag, den sowohl Schulleiterin Heyne-Huck, Rechtsanwalt Rittinger wie auch die Eltern des siebenjährigen Sohns positiv bewerteten. (GEA)