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Rietheimerin erklärt die Weisheit der Schnecken

Rita Goller aus Rietheim ist eine der wenigen Schneckenzüchterinnen Deutschlands. Von den Tieren hat sie einiges gelernt - und findet überraschende Parallelen zu den Menschen.

Von den Weinbergschnecken lässt sich viel fürs Leben lernen, findet Rita Goller.  FOTO: BACHMANN/DPA
Von den Weinbergschnecken lässt sich viel fürs Leben lernen, findet Rita Goller. FOTO: BACHMANN/DPA
Von den Weinbergschnecken lässt sich viel fürs Leben lernen, findet Rita Goller. FOTO: BACHMANN/DPA

MÜNSINGEN-RIETHEIM. Kraftlos scheint die Sonne durch einen Schleier aus Dunst. Minus acht Grad, ein eisiger Wintermorgen auf der Schwäbischen Alb. Mit nackten Händen werkelt Rita Goller am Schloss ihres Schneckengartens. Nichts zu machen. Metall ist empfindlicher als schwäbische Bauernhände. Weil das Schloss eingefroren ist, muss erstmal ein Feuerzeug her.

Dann öffnet sich das Tor, die Frau blickt auf ihre Wiese. Breit wie eine Autobahnspur, lang wie ein Fußballfeld. Und darauf zwei eingezäunte Streifen. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie brachliegende Salatbeete, doch nur wenige Zentimeter unter dem Erdboden liegt das, wofür Rita Goller in der Region bekannt ist: tausende Weinbergschnecken. Im Frühling, wenn es wärmer wird, werden sie aus ihrem Winterschlaf erwachen und zwei Tage durchfressen, um das verlorene Gewicht wiederzugewinnen.

Der beste Moment, um die Schnecken zu ernten, ist aber jetzt, da sie noch kältestarr und kopfüber in der Erde liegen, mit der Hausöffnung nach oben. Den Kalk, der ihr Fleisch im Rest des Jahres ungenießbar macht, scheiden die Schnecken kurz vor dem Winterschlaf aus. Damit bilden sie vor ihrer Hausöffnung einen Deckel, der sie vor der Kälte schützt. Jetzt sind die Schnecken entkalkt, ihre Gedärme entleert. Gut gekocht sollen sie wie feines Kalbfleisch schmecken.

Mehrere Jobs hinter sich

70.000 Tiere hielt Goller in ihren Spitzenzeiten. Mit ihnen versorgte sie Gourmets in ganz Deutschland. Aus den Schnecken wurden Schneckenwurst, Schneckenragout, Schneckensuppe und Schneckenschnitzel.

Mit der Schneckenzucht hat sich Rita Goller im Jahr 2008 neu erfunden. Mal wieder. Damals, mit 50 Jahren, ist Goller nach einer schweren Krankheit in Rente gegangen, an Ruhestand will sie aber nicht denken. Zu diesem Zeitpunkt hat sie schon zahlreiche Jobs hinter sich. Erst die Ausbildung als Strickerin, dann die Bürostelle in der Bank, schließlich der Aufstieg zur Filialleitervertretung bei einem Discounter.

Rita Goller züchtet Weinbergschnecken, aber nicht mehr zum Verkauf.  FOTO: PRIVAT
Rita Goller züchtet Weinbergschnecken, aber nicht mehr zum Verkauf. FOTO: PRIVAT
Rita Goller züchtet Weinbergschnecken, aber nicht mehr zum Verkauf. FOTO: PRIVAT

Überhaupt war da in ihrem Leben immer die Arbeit. Urlaub hat Rita Goller zum ersten Mal als junge Mutter mit ihren Kindern gemacht, mit dem Fazit: Wozu sich in Jesolo einen Sonnenbrand einholen, wenn man auch in der Lauter baden kann? Auch Krankschreibungen hat es nie gegeben. Nur bei dem Discounter hat sie irgendwann gekündigt. Sie sattelt kurz darauf zur Therapieplanerin um. In einer Kurklinik plant sie für ihre Patienten Bäder, Massagen, Krankengymnastik.

Dann trifft es sie selbst. Als sie eines Tages einen Artikel in der Zeitung liest, kann sie sich schon kurz darauf nicht mehr an den Inhalt erinnern. Eine Untersuchung ergibt, dass sich in Gollers Kopf und Rückenmark Hirnwasser angesammelt hat, laut einer Ärztin droht unmittelbare Lebensgefahr. Goller ist nun monatelang nicht zu Hause, pendelt zwischen Operationsräumen und Reha hin und her. Kurz zuvor hatte sie noch die Therapien ihrer Patienten geplant, jetzt braucht sie selbst Hilfe. Nach mehreren Untersuchungen stellt sich heraus: Die Ursache der Krankheit ist eine nicht ausgeheilte Grippe.

Feuchtigkeit – Fluch oder Segen?

Jahre später, als es ihr wieder gut geht, stellt sie bei ihren Schnecken etwas Merkwürdiges fest. Bei Trockenheit ziehen sich die Schnecken in ihr Gehäuse zurück, bei Feuchtigkeit werden sie aktiv, bauen an ihrem Haus weiter und machen sich auf die Suche nach Nahrung. Feuchtigkeit tut ihnen gut, schließt Goller. Sie beginnt, das Schneckengehege künstlich zu bewässern. Doch der anfängliche Segen wird für die Schnecken zum Fluch. Solange die Feuchtigkeit anhält, kommen sie nicht zur Ruhe, sie fressen, bauen, kriechen – nach einigen Wochen sterben die ersten an Erschöpfung.

»Die Schnecke ist eben ein Schwab: ein Häuslebauer«, sagt Goller heute und lacht. Ihren eigenen Kindern rät sie mittlerweile, nicht denselben Fehler wie sie selbst zu machen. Und rechtzeitig die Bremse zu ziehen.

Auch sie versucht, die Lehre der Schnecken umzusetzen. Nachdem ihr die Bürokratie zu fordernd wurde, hat Goller den Verkauf der Schnecken im vergangenen Jahr eingestellt. Die Schneckengärten sind heute nur noch zur Besichtigung da. Statt Gourmets kommen jetzt Künstler zu ihr. Sie kaufen die leeren Schneckenhäuser zu zehn Cent das Stück und verarbeiten sie zu Fasnets-Masken. Manchmal bemalt Goller die Schneckenhäuser auch selbst oder stickt bunte Fingerhüte mit Schneckenhaus.

Am liebsten erzählt sie aber neugierigen Besuchern aus der Welt der Weinbergschnecken, von ihrem innigen Liebesspiel bis hin zum Einsatz gegen Schädlinge wie der Nacktschnecke. Oder sie beobachtet, wie die Schnecken gemeinsam an einem großen Löwenzahn- oder Spitzwegerich-Blatt kauen. Ohne Kampf, ohne Wettbewerb, sagt Goller. Auch wenn man nicht geduldig genug ist, den Schnecken stundenlang beim Kriechen durchs Gehege zuzusehen: An den Schleimspuren erkennt man, dass sie doch ihr Ziel erreichen. (GEA)