GAMMERTINGEN. Im Sommer ist es so weit: Dann wird Abdulkader Sobh bei der Hohenzollerischen Landesbahn (HZL) Züge allein bewegen. Bis dahin wird er noch von einem Ausbilder begleitet. Sobh ist im dritten Ausbildungsjahr zum Eisenbahner im Betriebsdienst, Fachrichtung Transport.
Lokführer ist für viele Jungs und manche Mädels ein Traumberuf. Der 26-jährige Syrer hatte sein Leben aber ganz anders geplant. Schon mit neun Jahren begann er zu arbeiten und half seinem Vater als Koch. »Mit 13 habe ich mich selbstständig gemacht und einen Kiosk eröffnet. Mit 15 wollte ich heiraten und eine Familie gründen, das ist dort so üblich«, erinnert er sich, »ich hätte nie gedacht, dass ich einmal aus Syrien weggehen würde.« Der Krieg hat alles zerstört, von einer Lebensplanung hält er seither nicht mehr viel. Gesundheit, Freundschaft und jetzt sein Beruf, das müsse passen, dann kann sich das Leben entwickeln, philosophiert er.
Sobh kam 2016 nach Gammertingen und war zunächst in der Flüchtlingsunterkunft in der Talstraße untergebracht. »Sechs Männer auf einem Zimmer, der eine will fernsehen, der andere telefonieren, der dritte einfach nur schlafen«, schildert er, »das wollte ich nicht mehr«. Er hat eine kleine Wohnung gefunden, den Hauptschulabschluss nachgemacht und sich dann auf die Suche nach einer Arbeit oder einem Ausbildungsplatz gemacht. Doch weder schriftliche Bewerbungen noch persönliches Vorsprechen führten zum Erfolg. Manchmal gab es Absagen, oft hat er gar nichts mehr gehört. Oder die Aussage, dass das Stellenangebot auf der Webseite veraltet gewesen sei.
»In der Schule wird Hochdeutsch, sonst Schwäbisch gesprochen«
Ob es am syrischen Namen oder dem Migrationshintergrund lag? Sobh weiß es nicht. In Deutschland hat er viel Unterstützung bekommen, in Gammertingen bei den Familien Ferroni, Morgenstern und Scham: Sie halfen ihm, bürokratische Hürden zu überwinden, oder beim Lernen der nicht ganz einfachen deutschen Sprache. »Manche Leute sind freundlich, manche komisch«, sagt der junge Mann mit dem langen schwarzen Vollbart. Der nichts mit Islamismus, mehr mit Mode zu tun hat: »Ich mochte schon immer Bärte, mal kürzer mal länger.«
Bei der Südwestdeutschen Landesverkehrs-GmbH (SWEG) hat es dann geklappt, der Kontakt kam bei einem Informationstag zustande. »Der Vorstand der SWEG befürwortet das, wir machen gute Erfahrungen mit Mitarbeitern mit ganz unterschiedlichem Hintergrund«, sagt Thomas Bodenmiller, Betriebsleiter der HZL in Gammertingen, »und wir geben Menschen eine Chance.«
Sobh wurde zum Bewerbungsgespräch eingeladen, dann zu den Eignungstests, physisch und psychologisch. Nach einem Schnupperpraktikum ging es los mit Blockunterricht in Ettlingen und praktischer Ausbildung in Gammertingen und auf den Strecken der HZL. Seine Ausbilder sind zufrieden, bei laufenden Leistungstests macht er sich gut, sagt Bodenmiller. Zuerst war Sobh selbst skeptisch: »Lokführer, das ist ein bisschen viel.« Aber den deutschen Autoführerschein hat er mit null Fehlern bestanden, also warum nicht? »Die Lokführerprüfung ist schon ein bisschen was anderes als der Führerschein«, lacht Bodenmiller.
Technik und Fahrkünste sind das eine, Kommunikation das andere. Fahrkarten darf der Lokführer nicht verkaufen, Auskünfte geben gehört aber zu seinem Job. Etwa, ob der Zug pünktlich ist und der Anschluss erreicht werden kann: Dann wird schnell bei der Leitstelle angerufen und dort vielleicht darum gebeten, die Abfahrt eines Anschlusszugs noch hinauszuschieben, damit die Reisenden wie geplant am endgültigen Ziel ankommen.
Die Sprachkenntnisse hat Sobh sich in den üblichen Kursen und an der Schule angeeignet. »Das Problem war, dass in der Schule Hochdeutsch, sonst überall Schwäbisch gesprochen wird. Das ist nicht dasselbe.« Deswegen hat er bei der Gammertinger Bäckerei Bogenschütz angeheuert und fährt dort immer noch einen Verkaufstransporter. Man kann ihn in Gammertingen, Feldhausen und Bitz antreffen. »Finanziell hat sich das nicht gelohnt, die Hilfen für den Schulbesuch sind dann weggefallen.« Aber er wollte gern arbeiten und der Kontakt zu den Bewohnern der neuen Heimat ist für ihn durch nichts zu ersetzen. »Im Wohnheim gibt es Menschen, die zwei-, dreimal schlechte Erfahrungen gemacht haben und dann nicht mehr auf die Straße gehen.« Das kam für den Syrer nicht infrage, nicht nach der abenteuerlichen Reise aus Syrien ins Laucherttal.
»Dann schießt Freund auf Freund und Bruder auf Bruder«
Sobh stammt aus Idlib, etwa 20 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Idlib ist Kampfgebiet zwischen Assadtruppen und lokalen Milizen, »Mafias« nennt Sobh die Paramilitärs. Wer auf welcher Seite kämpft, habe wenig mit Ideologie, mehr mit dem Wohnort zu tun – manche Milizen rekrutieren unter Zwang. »Dann schießt Freund auf Freund, Bruder auf Bruder – das konnte ich nicht«, begründet er seine Flucht aus der Heimat. Dazu kamen die Bombenangriffe der syrischen und vor allem der russischen Luftwaffe. Also machte Sobh sich auf die Reise, zuerst in die Türkei und von dort über das Meer nach Griechenland.
Die erste Fahrt, mit siebzig Menschen im überbesetzten Schlauchboot, musste abgebrochen werden. Im zweiten Anlauf hat es dann geklappt, das Boot schaffte es bis Griechenland, wo es dann an einem Felsen leckschlug. Immer noch fünfzig Flüchtlinge drängten sich an Bord: »Das war besser, aber nicht viel«. Eine Mutter mit Kind wollte nicht an Bord, ein Schlepper mit gezogener Pistole fragte sie: »Steigst du ein oder tauchst du?« – sie stieg ein. In Griechenland gab es Hilfe von Organisationen wie dem Roten Kreuz, dann ging es über die Balkanroute bis nach München.
Eigentlich wollte Sobh zu Verwandten nach Schweden, aber nachdem deutsche Grenzer seine Fingerabdrücke erfasst hatten, war für ihn die Weiterreise blockiert. Von München kam er in die – mittlerweile geschlossene – Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) Meßstetten und dann nach Gammertingen.
Mit seiner Geschichte hat es Abdulkader Sobh zu einer gewissen Prominenz gebracht. Im Technoseum, dem Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim, ist noch bis zum Juni die Ausstellung »Arbeit & Migration: Geschichten von hier« zu sehen. Sobh hat gemeinsam mit Kuratorin Anne Mahn seine Geschichte erzählt: »Ich kann es kaum erwarten, alleine Lok zu fahren«, hieß sein Beitrag. Erzählt wird dort auch die Geschichte der Familie Ferroni, die Abdulkader Sobh ja kennengelernt hat. Auch der Italiener Ferroni hat einst bei der Eisenbahn in Gammertingen angefangen. (GEA)