PFULLINGEN. Sie ist eine Krankheit, die man nur schwer fassen kann und heutzutage immer noch nicht die Anerkennung erfährt, die es bräuchte. Das sagt die Pfullingerin Sandra Ebinger, Vorsitzende der Selbsthilfegruppe Lebenschance-Depressionen. Laut der Deutschen Depressionshilfe leiden rund 5,3 Millionen Menschen in Deutschland an einer Depression. Sie wird auch als Krankheit der »Losigkeiten« bezeichnet, denn Betroffene fühlen sich hilflos, emotionslos, schlaflos, hoffnungslos, antriebslos. Ursachen dafür sind vielfältig und können biologischer, psychologischer oder sozialer Natur sein. Um Betroffenen zu helfen, hat Ebinger die Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen, die in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen feiert.
Wenn Ebinger davon berichtet, weiß sie, was sie sagt. Sie hat selbst mit Depressionen zu kämpfen und hatte zwei akute Phasen. Die erste, als sie 26 Jahre alt war. Auslöser war die Scheidung ihrer Eltern und der Kontaktabbruch zu ihrem Vater, aber auch allgemeine Überlastung, wie sie erzählt. »Ich habe nichts mehr gegessen und nichts mehr getrunken«, beschreibt sie. Aus dem Bett sei sie kaum aufgestanden. Und ihre Körperhygiene war ihr egal, obwohl sie zuvor immer sehr auf ihr Äußeres geachtet habe. Ihre Rettung war schließlich eine spezielle Klinik, in der sie sich für sieben Monate befand. Eine zweite Depression folgte mit 30 Jahren. »Da habe ich von meiner ersten zu wenig gelernt«, gibt sie zu. Ebinger fiel in alte Muster, ihr Perfektionismus kostete Kraft und sie missachtete ihre eigenen Bedürfnisse. »Alle Anderen kamen immer zuerst.«
Durch Familie und Medikamente stabil
Die kaufmännische Angestellte gesteht, dass sie während ihrer Depressionen auch Suizidgedanken hatte. Inzwischen hat sie sich aber stabilisiert. Dank des Rückhalts aus ihrer Familie, aber auch durch Medikamente. Sie nimmt Lithium und Antidepressiva. Durch diese medikamentöse Behandlung kommt sie durch den Alltag. Lithium wirkt stimmungsstabilisierend und hat eine antisuizidale Wirkung, muss aber regelmäßig überwacht werden, da es bei falscher Dosierung toxisch sein kann. Antidepressiva werden zur Linderung von depressiven Symptomen eingesetzt.
Nun leistet sie ihren eigenen Beitrag, anderen Betroffenen zu helfen. Die 54-Jährige sah Anfang 2004 ein Plakat für eine Veranstaltung in Münsingen zum Thema Depression. Sie nahm teil. Schon bei der Rückfahrt fasste sie den Entschluss, selbst tätig werden zu wollen. Nach einer Infoveranstaltung im Oktober des gleichen Jahres startete kurz darauf die erste Sitzung der neu gegründeten Selbsthilfegruppe in Pfullingen. Die Resonanz war groß.
Regelmäßige Treffen im Schlösslespark
20 Jahre später treffen sich in der Lebenschance-Depressionen alle zwei Wochen zehn bis zwölf Personen im Familienzentrum im Schlösslespark. In immer wechselnder Zusammensetzung. Wie viele Menschen es insgesamt sind, die an den Sitzungen teilnehmen, sei schwierig zu sagen, sagt Ebinger. »Die Teilnehmer kommen nicht mehr so regelmäßig und verbindlich wie vor einigen Jahren.« In ihrem E-Mail Verteiler seien aber mehr als 30 Personen. Viele davon wohnen außerhalb Pfullingens.
Professionelle Hilfe ist bei den Sitzungen nicht anwesend. Sich zu öffnen, sei das Wichtigste, sagt Ebinger. »Dafür muss die Chemie stimmen.« Das tue sie innerhalb der Gruppe oftmals eher, als bei einem Therapeuten, weil das Verständnis unter den Betroffenen da sei, so die Gruppenleiterin. Sie bilden daher eine sinnvolle Ergänzung zur medikamentösen Behandlung oder der Psychotherapie. Die Betroffenen sprechen miteinander, tauschen ihre Erfahrungen aus, teilen ihre Gedanken. Sie geben sich in der Selbsthilfegruppe gegenseitig Halt und können gemeinsam aktiv werden. Denn: »Aktiv zu sein ist sehr wichtig«, sagt Ebinger. Am besten wäre Sport. »Das ist von der Wirkung wie ein Medikament, hilft aber sofort.«
Depressionen bei Kindern nach Corona
Zu denken gibt Ebinger allerdings, dass sich inzwischen viele Mütter und Väter bei ihr melden. »Ich bekomme viele Anrufe von Eltern, die sich wegen ihrer Kinder Sorgen machen.« Vermehrt würde die Frage aufkommen, ob das eigene Kind an einer Depression leide. »Das hat nach Corona stark zugenommen«, sagt sie. Hauptsächlich gehe es um Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 16 Jahren. »Sie zocken viel, schotten sich sozial ab, machen die Nacht zum Tag.« Das hieße allerdings nicht, dass die Jugendlichen depressiv seien, aber all das würde eine Depression begünstigen. »Es ist sehr wichtig, hier früh dagegen zu steuern und auf die Krankheit aufmerksam zu machen.«
Eines kann Ebinger nicht verstehen: Obwohl Depressionen weit verbreitet sind, sind sie immer noch ein Tabu. »Es wird zu wenig über sie gesprochen. Die Depression hat leider einen Makel. Man kann sie nicht rausschneiden.« Ebinger fordert, man müsse über die Krankheit reden können, wie über einen Gipsfuß. Die Erfahrung habe sie aber noch nicht gemacht. Und deshalb will die Pfullingerin die Menschen weiter aufklären. Den Leuten müsse bewusst werden, dass die Krankheit »nicht ansteckend ist«. Mit einer Veranstaltung am 12. Oktober will sie dazu beitragen. (GEA)
Depressions-Informationstag am 12. Oktober in der WHR Realschule
Zum 20. Geburtstag veranstaltet die Pfullinger Selbsthilfegruppe Lebenschance-Depressionen einen Informationstag am 12. Oktober 2024 zum Thema Depressionen bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen. Ab 11 Uhr begrüßt Schirmherr Bürgermeister Stefan Wörner in der WHR-Realschule in der Schlosstraße 11. Neben musikalischer Untermalung gibt es diverse Vorträge über die verschiedenen Aspekte der Krankheit und die Möglichkeit zur Beratung an diversen Informationstischen. In der Mittagszeit gibt es einen kleinen Imbiss. Der Eintritt ist frei. (anst)