ENINGEN. »Jetzt haben wir keine Stühle mehr«, konstatierte Franz-Georg Gaibler im Saal des Andreas-Gemeindehauses. Über 100 Gäste waren gekommen, um auf Einladung des Heimat- und Geschichtsvereins Eningen Einblick in das Leben von Ruth Votteler aus Reutlingen zu bekommen, die von 1946 bis 1948 in Eningen »In Stellung« war. Im Filmprojekt der Abteilung für Ältere, umgesetzt von Koordinator Boris Terpinc und Grafiker Christoph Dohse, berichtete Ruth Votteler als Zeitzeugin. Sie war auch selbst anwesend und beantwortete Fragen des Publikums.
Ins Leben gerufen worden war die Filmreihe in der Coronazeit, als es nicht mehr möglich war, persönlich beispielsweise in Kindergärten als Zeitzeuge zu berichten, informierte Terpinc, Professor an der Hochschule Reutlingen.
Unfassbare Zeiten
Kaum 80 Jahre ist es her, dass Ruth Votteler, geborene Kies, (heute 92) auf dem Hof von David Sättele hinter dem heutigen Eninger Rathaus in Stellung war. Und doch waren die Zeiten aus heutiger Sicht unfassbar. Ruth Votteler half als junges Mädchen in der Landwirtschaft und in der »Ratsstube«, wohnte in einer Dachkammer des Hofes und wusch sich in einer Schüssel. »Damals hat man noch auf die Eltern gehört«, sagte sie. Die Eltern hätten sie auf den Hof geschickt und dafür 5.000 Reichsmark bekommen. Das Mädchen selbst erhielt 30 Reichsmark im Monat.
»Zum Ausgeben hatte ich gar keine Gelegenheit«, sagte Ruth Votteler. Einmal habe sie sich aus kariertem Stoff einen Rock genäht. »Den allerdings haben die beiden Ziegenböcke gefressen.« Zu tun habe es immer etwas gegeben. »Ich weiß nicht, wann ich geschlafen habe. Ich war wie ein Ochse, der immer angetrieben wurde.« Feierabend sei ein Fremdwort gewesen. »Es war ein Festtag, wenn ich ab und zu mit der Straßenbahn nach Hause fahren durfte.« Doch gearbeitet habe sie immer gerne.
Geld hatte keinen Wert
Der Film, unterlegt mit Fotos der Zeit, zeigte anschaulich die schwere Arbeit des Wiesenmähens, Heumachens und auch der Butterherstellung. »Das war eine sehr gute Butter«, betonte die Referentin. Geld habe damals keinen Wert gehabt, die Butter wurde auch gegen andere Lebensmittel eingetauscht. Der Hof hatte auch eine eigene Mosterei und Brennerei. Gefüttert wurden zwei Schweine, die auch gemeinsam geschlachtet wurden. »Damals wollte man fette Säue. Am Schluss sind sie nur noch auf dem Bauch zum Futtertrog gerutscht.« Das ausgelassene Fett wurde vielfach gebraucht.
Atemlos hörte das Publikum zu, unterbrochen von Phasen, wo man eifrig über eigene Erinnerungen diskutierte. Ruth Votteler musste auch in der Gastwirtschaft helfen, dort die Holzböden schrubben und aufbleiben, bis die letzten kartenspielenden Gäste gegangen waren. »Und frühmorgens begann der Arbeitstag wieder von Neuem.«
Suppe aus Fleischbrühe, Spülwasser und Kräutern
Lebendig und auch mit Humor erzählte Ruth Votteler ihre Geschichte. Und wusste auch Anekdoten einzustreuen. So griff sie einmal mitten im Geschirrspülen eine volle Kanne und leerte ihren Inhalt in das Waschwasser. Um dann voller Schrecken zu erkennen, dass es sich um kostbare Fleischbrühe gehandelt hatte. Um keinen Ärger zu bekommen, füllte sie die Kanne aus der Wanne wieder auf und fügte noch ein paar Gartenkräuter hinzu. Prompt kam die Rückmeldung vom Chef: »Heit ischs amol a gude Supp!« Damals spülte man mit Soda, chemische Mittel gab es noch nicht.
Später nähte die junge Frau in Eningen Arbeitsschürzen, bügelte Hemdkrägen, arbeitete bei Bosch im Akkord und setzte sich dort erfolgreich gegen ein schneller gestelltes Laufband ein. Sie heiratete, bekam eine Tochter und drückte mit 40 Jahren nochmal die Schulbank, um ihrem selbständigen Ehemann im Büro helfen zu können. Für ihre spannenden Erzählungen bekam Ruth Votteler viel Beifall. (GEA)