OBERTRAUN/PFULLINGEN. An Ostern ging vor 70 Jahren eine Nachricht um die Welt: Im österreichischen Dachsteingebirge waren 13 Bergwanderer verschollen. Zehn Jungs der Heilbronner Knabenschule und drei Lehrer. Eine der bis heute größten alpinen Rettungsaktionen begann. Allen Mühen zum Trotz: Gerettet werden konnte keiner. Alle für diese Tour ausgewählten Jugendlichen und ihre Betreuer sind wohl noch in der Nacht auf Karfreitag im heftig tobenden Schneesturm erfroren. Die ersten Toten wurden neun Tage später gefunden, die beiden letzten erst eineinhalb Monate danach geborgen. Die einzige Frau in der Gruppe, die junge Lehrerin Christa Vollmer, stammte aus Pfullingen. So führt eine Spur dieser tragischen Geschichte ins Echaztal: Die 23-Jährige liegt auf dem Friedhof ihrer Heimatstadt begraben - zusammen mit ihrem Verlobten Hans Werner Rupp.
Wie konnte es zu der bis heute als »Dachstein-Unglück« bekannten Tragödie kommen? Den Versuch, die Ereignisse zu rekonstruieren, machten Angehörige, Beobachter und Medien bereits wenige Tage danach. Dennoch bleiben bis heute Fragen offen. Als sicher gilt, dass der 39-jährige, aus Südtirol stammende und als bergerfahren geltende Heilbronner Lehrer Hans Georg Seiler am frühen Morgen des Gründonnerstags, 15. April 1954, mit Hildegard Mattes von der Kreisbildstelle, dem jungen Heilbronner Lehrer Hans Werner Rupp und dessen Verlobter Christa Vollmer sowie zehn Jungen zwischen 14 und 16 Jahren von der Bergsportschule Obertraun (513 Meter über dem Meer) im Salzkammergut zur Besteigung des Krippensteins aufbrach. Die Gruppe war in den Tagen zuvor bei leichteren Touren ausgewählt worden, um den 2.108 Meter hohen Aussichtsberg im Dachstein-Massiv zu erklimmen. Um sechs Uhr früh ging es los, gegen 18.30 Uhr sollten sie wieder zurück sein. Das Wetter schien Meteorologen zufolge gut, auch wenn Einheimische vor einer Wanderung so früh im Jahr über das für plötzliche Wetterumschwünge bekannte Gebiet warnten. Ausgestattet waren die 14 Bergwanderer mit acht Laiben Brot, Butter, Käse und Marmelade. Doch statt, wie dem Verwalter der Bundessportschule am Vorabend angekündigt, über das Bergdorf Krippenbrunn führte Seiler die Gruppe auf der westlichen Route über die Schönbergalm aufs Dachstein-Plateau hinauf. Schon vor der Ankunft dort ist Mattes nach zwei Stunden - wie es heißt, planmäßig - umgekehrt. Sie sollte als einzige überleben.

Als die nun noch 13-köpfige Gruppe gegen 9.30 Uhr die Alm erreichte, wurde sie in der gegenüberliegenden Seilbahnstation mit Tee versorgt. Das Wetter soll sich da schon massiv verschlechtert haben, weshalb die Wirtin zur Umkehr riet. Gegen 10 Uhr tobte am Berg ein Schneesturm mit bis zu 70 Stundenkilometer starkem Nordwind. Die Schneehöhe auf dem Karstplateau stieg im Lauf des Tages von einem halben bis einem Meter um das Doppelte an. Dabei scheinen die Jugendlichen und ihre Lehrer für diese Bedingungen nicht ausgerüstet gewesen zu sein. Zwei Seilbahn-Arbeiter, die gegen 11 Uhr in der Nähe des Mittagskogels auf dem Weg zur Alm hinab waren, warnten ebenfalls vor der zunehmenden Gefahr. Sie waren die letzten, die die Heilbronner Gruppe lebend sahen. Spätere Auskunft über den weiteren Verlauf dieser verhängnisvollen Wanderung geben Fotos aus Kameras, die der 23-jährige Lehrer Rupp und ein Schüler dabeihatten, und die Retter später fanden. Um die Suche nach weiteren Vermissten zu ermöglichen, wurden die belichteten Filme entwickelt. Sie zeigen, wie die Gruppe im tiefen Schnee aufwärts stapft und sich die Buben sowie Vollmer und Rupp bei einer Pause gegenseitig die Hände warmreiben.

Nachdem die Gruppe am Abend nicht nach Obertraun zurückgekehrt war, begann der Verwalter der Bundessportschule herumzutelefonieren. Noch am Abend begann eine der größten Suchaktionen der Alpingeschichte - mit bis zu 400 Bergrettern, Alpingendarmen und Freiwilligen, Hubschraubern, Höhlenforschern und Lawinensuchhunden. Wegen der Routenänderung suchten die Retter zunächst westlich vom Krippenstein, mussten jedoch wegen Lawinengefahr abbrechen. Auch der zweite Suchtrupp, der in Richtung der Seilbahnbauhütte aufgestiegen war, kehrte gegen 3 Uhr am Karfreitag erfolglos zurück. Sechs Bergretter verirrten sich am Folgetag ebenfalls im dichten Schneetreiben mit Sicht von weniger als 20 Metern. Sie mussten biwakieren und kamen erst am Ostersamstag nach wiederholten Irrwegen zurück ins Tal. Zeitzeuge Walter Höll aus Obertraun berichtet, solch extremes Wetter habe es seitdem nicht mehr gegeben. »Solch ein Wettersturz kann in 20 Minuten vorüber sein«, sagte der Bergretter vor neun Jahren in einem Interview des ORF. »Keiner hat gewusst, dass das zwei Tage lang geht.« Für ihn ist es »Schicksal oder Bestimmung«. Sein jüngerer Kollege Dietmar Köberl meint, »die hatten keine Chance«. Ihm zufolge waren die Heilbronner durch den Sturm von der Route Richtung Gjaidalm in die Speickgrube abgedriftet, wo sie zunächst noch ein Biwak errichtet hatten. Weshalb der Tourenführer Seiler nicht auf die Ratschläge der Einheimischen gehört hat, bleibt unbekannt. »Richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werden«, mahnte der Pfullinger Pfarrer Fritz Schrägle in seiner Grabrede vom 30. April 1954.
Bis heute gilt das Dachstein-Unglück zudem als Inbegriff eines bis dahin beispiellosen Medienrummels. Obwohl damals in dem Bergdorf nur zwei Telefonleitungen zur Verfügung standen, wurde quasi in Echtzeit vor Ort in alle Welt berichtet. Fotos, welche die hoffnungsvollen jungen Menschen »auf ihrer Wanderung in den Tod« zeigen, und solche von der Bergung der Leichen scheinen Vielen bis heute pietätlos.
An der Stelle, wo erst am 28. Mai Seiler und der 14-jährige Rolf Mößner gefunden wurden, erinnert heute das sogenannte »Heilbronnerkreuz« an die Tragödie. Auf dem Krippenstein steht eine Kapelle mit einer aus Heilbronn stammenden Glocke - »den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung!«, schreibt die Gemeinde Obertraun dazu. Die Trauerfeier in Heilbronn besuchten tausende Menschen. Auch in Pfullingen gab es einen Tag später eine »unwahrscheinlich große Beerdigung«, erklärt Martin Fink vom Geschichtsverein, der regelmäßig Besucher zu den »Bergsteigergräbern« auf dem Friedhof führt.
Was über Christa Vollmer und Hans Werner Rupp bekannt ist
Denn die einzige Frau unter den Opfern, die junge Begleitperson Christa Doris Vollmer, wurde in ihrer Heimat beigesetzt - zusammen mit ihrem Verlobten Hans Werner Rupp, auf Wunsch von dessen Familie. Vollmers lebten in der Klosterstraße 20. Der Vater betrieb dort ein Lebensmittelgeschäft. Das Haus stehe aber heute nicht mehr, meint Martin Fink. Christa wurde am 29. Juni 1930 geboren, als Tochter des Kaufmanns Karl Vollmer, der am 19. April 1952 verstarb, und seiner Ehefrau Christine Luise, geborene List (1888-1944). Karl Vollmer hatte 1947 ein zweites Mal geheiratet: Frida, geborene Walz, aus Ulm (1903-1995). Christa war die Jüngste unter fünf Geschwistern - drei Brüdern und einer Schwester. Im September 1949 sei sie aus Pfullingen weggezogen, berichtet Stadtarchivar Stefan Spiller. Damals begann sie auf der Kirchlichen Lehrerinnen-Oberschule in Lichtenstern - heute ein Ortsteil von Löwenstein im Landkreis Heilbronn - ihre Ausbildung. Im Juli 1951 war sie dann für zwei Jahre wieder in Pfullingen gemeldet. Anscheinend ist sie zur Fortsetzung ihrer Ausbildung nach Esslingen gependelt, bevor sie im Herbst 1953 ihre erste Stelle in der Schule von Ottenhausen antrat, damals Landkreis Calw, heute als Teil von Straubenhardt im Enzkreis.

Am Pädagogischen Institut in Esslingen hatte die 23-Jährige den gleichaltrigen Hans Werner Rupp kennengelernt. Rupp, geboren am 27. Mai 1930, kam aus Gießen, war zum Zeitpunkt seines Todes aber in Kornwestheim gemeldet, und unterrichtete an der Heilbronner Knabenmittelschule, der heutigen Dammrealschule. Erst wenige Wochen vor der tödlichen Tragödie hatten sich die beiden verlobt, berichtete Pfarrer Schrägle. Als Todestag ist laut Spiller in den Akten der 24. April 1954 angegeben. Das war der Tag, an dem das Paar zusammen mit dem 16-jährigen Schüler Willi Alfred Dengler tot auf dem Dachsteinplateau aufgefunden wurde - »im Sitzen nach hinten gekippt« seien sie eingeschlafen, heißt es dazu in der Film-Doku »Schulausflug in den Tod«. Da man davon ausgeht, dass keiner der Gruppe die Nacht auf Karfreitag überlebt hat, aber der Zeitpunkt unbekannt ist, steht auf dem Findling des Pfullinger »Dachsteingrabs« nur »Ostern 1954«, erklärt Martin Fink.

Wie beim zweiten »Bergsteigergrab« dort, jenem von Günter Nothdurft, der 1957 am Eiger verunglückte, ordnet Fink für Interessierte den Vorfall in die Zeitgeschichte ein: Neun Jahre nach dem Krieg waren die Leute grade aus dem Gröbsten raus, konnten sich wieder etwas leisten. Im Sommer 1954 war Fußball-WM - es herrschte Aufbruchstimmung. »Ausflüge in die Berge waren etwas ganz Besonderes - und dann auch noch in der Gemeinschaft!« Von seiner Mutter und dem Onkel, Jahrgang 1934 und 1931, weiß er, dass das Unglück damals nicht nur für die Retter vor Ort und die Heilbronner, sondern auch in Pfullingen und Umgebung »sehr belastend war«. Wobei er vor den Rettern »Hochachtung« habe, sagt der stellvertretende Bürgermeister. Die Bergausrüstung war nicht annähernd so, wie man das heute kennt, wenngleich Fotos belegen, dass die jungen Leute mit Gletscherbrillen und Anoraks »für die damalige Zeit gut ausgerüstet waren«. Von Musikern des Posaunenchors weiß Fink, dass es bei der Beerdigung viele Kränze, auch von Rettungsorganisationen, gab. Altersgenossen trugen Stadtarchivar Spiller zufolge die beiden Särge. Noch bis vor neun Jahren trafen sich Christa Vollmers Jahrgänger regelmäßig und besuchten dabei auch ihr Grab. Das bereits seit 2004 von der Stadt bepflanzt. Davor machte dies viele Jahrzehnte die Familie, berichtet Fink. Christa Vollmers Schwester Elsbeth, die später den Namen Steinhilber trug, ist 2021 gestorben. (GEA)