METZINGEN-NEUHAUSEN. Musik verbindet, macht Freude, gibt Halt. Beim Liederkranz Neuhausen seit 150 Jahren. Das wird am 17. Juni im und rund um das Neuhäuser Gemeindezentrum groß gefeiert: Missa festiva nennt sich das bunte Konzert, das um 19 Uhr beginnt. Es dient einem guten Zweck.
Anfang als Lehrer-Ensemble. Im Gründungsjahr 1873 war die Revolution von 1848 längst vorbei, der württembergische König regierte. Doch das gesellschaftliche Beben wirkte noch nach. »Es war auch ein Aufbegehren gegen die Obrigkeit«, blickt Neuhausens Ortsvorsteher und Liederkranz-Vorsitzender Günter Hau auf die Motive der Chorgründer zurück. Vor allem aber trieb sie »die Sehnsucht nach Gemeinschaft« an, »außer im Kirchenraum hatten sie die nirgends«. Diese Sehnsucht lässt die Menschen bis heute gemeinsam musizieren, nicht nur im Liederkranz Neuhausen. Der hat sich im Dezember 1873 im Gasthaus »Brücke« gegründet und dort lange auch geprobt. Zehn Pfennig pro Probe hatte jeder Sangesfreudige zu berappen. Anfangs waren vor allem Lehrer im Chor, so auch der Gründungsdirigent namens Wehrle, der hauptberuflich Grundschulrektor war. Für Frauen war das Mitsingen verboten.
Gesang und Stille im Krieg. Einschnitte brachten schon die Jahre 1883 bis 1886, als zwölf der 16 Liederkranz-Männer zum Militär eingezogen wurden: Der Vereinsbetrieb ruhte. Im Ersten Weltkrieg verlor der Verein 13 Kameraden, ein Drittel aller aktiven Sänger, wieder war jahrelang Stille in der »Brücke«. Auch im Zweiten Weltkrieg waren 1944 nicht mehr genug Sänger da. Erst 1947 ging’s weiter. Doch die beiden Weltkriege brachten nicht nur Leid und Schweigen in den Liederkranz, sondern auch Sondereinsätze, die anderen Trost spendeten: etwa als die herrschenden Nazis die Neuhäuser am 1. März 1942 zum »Chorgesang-Einsatz in der Lazarett-Betreuung in Tübingen« beorderten.
Die ersten Frauen im Chor.Erst 1974 hat sich der Liederkranz der Weiblichkeit geöffnet. Heute stehen 36 Sängerinnen 19 Sängern gegenüber oder hintereinander. Den sonst heutzutage weitverbreiteten Männerstimmenmangel in Chören kennt der Neuhäuser Liederkranz nicht.
Fast 100 Jahre alter Flügel. 1929 hat der Liederkranz für 2 900 Reichsmark in Stuttgart einen Bechstein-Flügel gekauft. »Wir proben immer noch damit«, sagt Günter Hau. Und zwar im Bindhof.
Weinfeste. Die Aufbauzeit nach dem Zweiten Weltkrieg war geschafft, es ging unbeschwerter zu in Deutschland und auch in Neuhausen: Im November 1969 richtete der Liederkranz das erste Weinfest aus. Erst im Gasthaus »Brücke«, dann in der Äußeren Neuhäuser Kelter, die heute von der Weingärtnergenossenschaft Metzingen-Neuhausen vor allem während der Weinlese genutzt wird, und seit ihrer Umgestaltung zur Feststätte 2004 in der Inneren Kelter. Ausgefallen sind bisher erst vier Weinfeste: zwei in den 1980er-Jahren wegen zu später Weinlese und zwei während der Corona-Pandemie.
Kein Corona-Knick. Inzwischen ist die Pandemie passé und das Virus mit dem Krönchen gilt als endemisch und beherrschbar. Einschränkungen sind gefallen, Lebensfreude und Feierlust zurückgekehrt. Auch in den Liederkranz Neuhausen. »Es gab keinen Corona-Knick«, sagt Hau erfreut. Stolze 20 bis 25 Mitglieder hatten sich schon zu den Video-Singstunden zugeschaltet. »Die Leute haben sich gefreut, sich wiederzusehen.« Noch viel größer war die Freude und Erleichterung, als sich der gemischte Chor zunächst auf einer Wiese und draußen vor der Kelter zum Singen treffen durften. Gefreut hat das auch so manchen dankbaren Gast aus einem nahegelegenen Biergarten: Endlich wieder schöne Musik statt lastender Stille.

Musikfest und Geselligkeit. Bei der Missa festiva am 17. Juni ab 19 Uhr im Neuhäuser Gemeindezentrum singen der Liederkranz unter Leitung von Matthias Baur, der Gospelchor unter Petra Blaich und der Chor Kway ya Kati aus Tandala/Tansania. Instrumental musizieren der CVJM-Posaunenchor mit Jürgen Reusch und die Hofbühlmusikanten mit Bruno Seitz am Dirigentenstab. Missa festiva heißt nicht nur das Jubiläumskonzert, sondern auch ein großes Werk von Lorenz Maierhofer, das der Liederkranz aufführt. Direkt davor spricht Metzingens Oberbürgermeisterin Carmen Haberstroh ein Grußwort. Am Schluss singen alle Chöre zusammen »Siyahamba« – auf Deutsch »Lasst uns singen«. Danach darf auch das Publikum einstimmen: »Du meine Seele singe.« Nach der Musik geht’s ins Gespräch: munterer Austausch am Turm, dem Relikt der Zwölf-Apostel-Kirche, deren Schiff 1969 dem Gemeindezentrum gewichen ist. Der Neuhäuser Kelternverein bewirtet den geselligen Ausklang.
Erlös für Tandala. Vom eineinhalbstündigen Konzert und der Bewirtung profitieren Menschen mit Behinderung im Diakoniezentrum in Tandala/Tansania, für das sich der Neuhäuser Diakon und Grünen-Ortschaftsrat Friedemann Salzer und zahlreiche Mitbürger seit Jahrzehnten engagieren. In Tandala muss ein Wasserkraftwerk abbezahlt werden, das die Afrikaner selbst aufgebaut haben. Am 24. Mai sind die beiden Turbinen mit jeweils 400 Kilowatt feierlich in Betrieb gegangen. »Der Strom wird ins öffentliche Netz eingespeist und ist eine permanente Einnahmequelle«, erläutert Salzer. Die den Bewohnern im Diakoniezentrum das Leben sichern hilft. Da das Kraftwerk im wasserreichen Bergland liegt, ist es anders als Solarenergie und Windkraft grundlastfähig, kann also ständig Strom, erzeugen. 1,2 Millionen Euro teuer war es. Allein aus dem Ermstal kamen dafür 150 000 Euro zusammen. Stiftungen etwa von Bosch und Lechler, haben Geld gespendet, viele Privatleute brachten sich ein und auch der Kirchenkreis Magdeburg, der für das Tandala-Projekt einen Kredit über 80 000 Euro aufgenommen hat. »Den stottern wir jetzt ab«, sagt der Neuhäuser Christ Friedemann Salzer in Solidarität mit seinen ostdeutschen Glaubensgeschwistern. (GEA)