METZINGEN/REUTLINGEN. Hat die Oberbürgermeisterin die Neutralitätspflicht verletzt? Das Regierungspräsidium hat zu den Bemerkungen Haberstrohs zur AfD keine rechtlichen Bedenken, weist allerdings gleichzeitig darauf hin, dass Amtsträger in amtlicher Funktion grundsätzlich keine Einflussnahme auf den parteipolitischen Meinungsbildungsprozess der Bevölkerung nehmen dürfen.
Hansjörg Schrade stellt als stellvertretender Sprecher des AfD-Kreisverbands Reutlingen fest: »In Metzingen ist gar kein AfD-Vertreter im Gemeinderat und aus dem Kreisrat kann sie [Haberstroh] keinerlei Skandal berichten. Stattdessen baut sie einen Alarmismus auf, für den sie ihre Argumente nur aus der Zeitung haben kann, nicht aus eigener Anschauung in Metzingen.«
»Frau Oberbürgermeisterin hat hier ohne Not ihre Neutralitätspflicht verletzt«
»Die Stadt sind wir alle. Der Staat sind wir alle. Wir alle können den Unterschied machen: Das war zusammengefasst die zentrale Botschaft meiner Rede beim Neujahrsempfang«, sagt Carmen Haberstroh. Dies habe sie mit vielen Beispielen von Menschen untermauert, »die mit ihrem Engagement und ihren Ideen dazu beitragen, dass die Stadt Metzingen so lebenswert ist und wir Herausforderungen wie beispielsweise die Flüchtlingskrise solidarisch meistern«.
»Eine Gesellschaft und eine Demokratie lebt von Dialogen. Andere Meinungen zu akzeptieren, faktenorientiert wahrzunehmen und respektvoll miteinander umzugehen, sind die Voraussetzungen«, sagt die OB, »deshalb ist es gerade in einem Jahr, in dem sowohl die Europawahl und die Kommunalwahlen stattfinden, wichtig, dafür zu werben, dass die Menschen sich entweder selbst politisch engagieren und/oder sich mit den Inhalten der Parteiprogramme befassen. Jede und jeder sollten wissen, welches Deutschland er oder sie herbeiwählt.«
»Als Oberbürgermeisterin muss ich das Wohl der gesamten Stadt, ihrer Einwohner und von Handel und Gewerbe im Blick haben«, sagt Carmen Haberstroh, »zudem hat gerade Metzingen eine große Zahl internationaler Gäste. Da gehört es deshalb zu meinen Aufgaben, auf Entwicklungen hinzuweisen, die der Stadt schaden können.« In ihrer Funktion als Oberbürgermeisterin, aber auch als Privatperson Carmen Haberstroh sei sie viel in Kontakt mit Menschen. »Die Rückmeldungen aus diesen Gesprächen helfen mir bei wichtigen Entscheidungen. Das ich mir, bei dem, was ich höre, Sorgen mache, dass ich Dinge hinterfrage, dass ich prüfe, dass ich die Dinge im Kontext einordnen muss, ist eine Selbstverständlichkeit.«
»Jede und jeder sollte wissen, welches Deutschland er oder sie herbeiwählt«
In ihrer Rede habe sie an einem konkreten Beispiel für Metzingen erläutert, was es für die örtlichen Unternehmen bedeutet hätte, wenn der Zuwachs von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit ausländischer Staatsbürgerschaft nicht so dynamisch erfolgt wäre: Im Zeitraum 2012 bis 2022 hat sich dieser Anteil überproportional verdoppelt, von 1.500 auf 3.000 von insgesamt rund 10.000 (2012) beziehungsweise 13.000 (2022) Arbeitsplätzen. Haberstroh: »Man muss sich nur vorstellen, was das für unsere Unternehmen, Gastronomiebetriebe et cetera bedeuten würde, wenn dieser Zuwachs nicht erfolgt wäre.«

»In meiner Rede habe ich nicht nur eine Partei herausgegriffen, sondern an mehreren konkreten Beispielen wie in der Energie-, Flüchtlings- und Bildungspolitik die Politiker in Bund und Land dazu aufgefordert, Fehler zu korrigieren sowie die Menschen und die Kommunen nicht mit Zielen zu überfordern«, sagt Haberstroh. »Hier habe ich zudem explizit dazu aufgerufen zu den großen Transformationsthemen überparteilich zusammenzuarbeiten. Eine Politik, deren Kompromisse nur mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner funktioniert, ist dafür völlig ungeeignet. Dazu steht zu viel auf dem Spiel.«
Hansjörg Schrade zitiert in seiner Mail an die Redaktion Herbert Gah, den Sprecher des AfD-Kreisverbands, der der Metzinger Oberbürgermeisterin vorwirft, sie habe Stimmung gegen eine Partei gemacht, die nicht eingeladen war. Haberstroh kontert: »Der Neujahrsempfang ist ein offener Austausch, zu diesem jeder kommen darf, da dies eine öffentlichen Veranstaltung ist. Und natürlich haben wir alle Landtags- und Bundestagsabgeordneten zudem persönlich eingeladen. Das Landtagsbüro von Joachim Steyer (AfD) hat sein Kommen aber abgesagt.«
»Auf Entwicklungen hinweisen, die der Stadt schaden können«
»Mir ist in letzter Zeit aufgefallen, dass wir uns viel zu viel über Verbote unterhalten«, sagt Carmen Haberstroh, »das kann für mich nur die Ultima Ratio sein. Wir sollten uns stattdessen mit Inhalten und Lösungen beschäftigen.« Von vielen (Ober-)Bürgermeisterkollegen im Land hat die Metzinger Verwaltungs-Chefin positive Reaktionen auf ihre Neujahrsansprache erfahren. »Wir sind der Auffassung, dass wir diese Themen ansprechen müssen«, sagt sie. Ihr Amtskollege aus Winnenden, OB Hartmut Holzwarth, hat sich bei seinem Neujahrsempfang am Sonntag ebenfalls klar gegen völkische Ideologie positioniert und dafür wie Haberstroh großen Zuspruch geerntet. Mit dem Hintergrund des Geheimtreffens rechter Politiker und Aktivisten in Potsdam, bei der die »Remigration« für potenziell ein Viertel der Einwohner, rund 24 Millionen Menschen ging, nannte er die AfD konkret beim Namen. »Der AfD Kreisverband behält sich vor, das Regierungspräsidium als Aufsichtsbehörde zu informieren und juristische Schritte gegen Frau Haberstroh durch die Justitiarin des Landesverbandes prüfen zu lassen«, schreibt Hansjörg Schrade abschließend in seiner Mail.
Gestern Nachmittag hat das Regierungspräsidium Tübingen Stellung zum Neujahrsempfang genommen: »Es bestehen keine rechtlichen Bedenken dagegen, dass sich eine Oberbürgermeisterin im Rahmen eines Neujahrsempfangs auch zu solchen Themen äußert, die über die Kommunalpolitik im engeren Sinne hinausgehen, von denen die Kommune aber gleichwohl betroffen ist«, sagt Matthias Aßfalg, der Pressesprecher des Regierungspräsidiums.
Eine Ausprägung der Neutralitätspflicht auf gemeindlicher Ebene bestehe etwa darin, dass die Gemeindeordnung eine Karenzzeit von höchstens sechs Monaten vor Wahlen festsetzt, in der das gemeindliche Amtsblatt Beiträge von Fraktionen nicht veröffentlichen darf. Diese Höchstfrist habe in Bezug auf die Kommunalwahl am 9. Juni erst begonnen, so Aßfalg, man befinde sich also noch nicht etwa in einer »heißen« Wahlkampfphase.
»Lenkende oder steuernde Einflussnahme auf Meinungsbildungsprozess verwehrt«
»Die vorliegende Angelegenheit haben wir mit Frau Oberbürgermeisterin Haberstroh erörtert«, so Aßfalg, »hierbei bestand Einigkeit, dass es nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht einer Oberbürgermeisterin als Beamtin ist, für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzustehen und auf mögliche von ihr gesehene Gefahren für diese Grundprinzipien hinzuweisen. Ebenso darf eine Oberbürgermeisterin die Sorgen zum Ausdruck bringen, die sie sich im Zusammenhang mit derzeitigen politischen Entwicklungen im Hinblick auf die international vernetzten Wirtschaftsbetriebe in ihrer Stadt macht. Auf der anderen Seite ist allerdings auch außerhalb von Wahlkämpfen nach höchstrichterlicher Rechtsprechung Amtsträgern in amtlicher Funktion grundsätzlich eine lenkende oder steuernde Einflussnahme auf den parteipolitischen Meinungsbildungsprozess der Bevölkerung verwehrt.«