DETTINGEN. Olga ist Anfang März mit ihren beiden Töchtern im Auto aus Charkiw geflohen, der von den Putin-Russen heftig bombardierten Stadt im Osten der Ukraine. »Auf dem Weg mussten wir das Auto dalassen, weil eine Stadt beschossen wurde«, blickt die 40-Jährige zurück. In einem vollen Zug ging es einen Tag weiter. »Acht Stunden waren wir ohne Strom, weil irgendwo in der Nähe bombardiert wurde.« Die Smartphones mussten aus bleiben, die Vorhänge im Waggon zugezogen werden, um Feinden keine Signale zu geben – weder elektronisch noch durch Leuchten. »Viele Kinder sind verloren gegangen«, hat Olga gesehen und zeigt auf ihrem Handy Fotos: Kleinkinder wurden in den Zug gereicht. »Manche Eltern sind zurückgeblieben. Es war eine Katastrophe.« Der Zug fuhr bis Lwiw (Lemberg), in einem Bus kamen Olga und ihre Töchter dann bis Warschau im sicheren Polen. »Wir haben einen Tag gebraucht. Normalerweise sind es vier Stunden. Überall war Stau.« Von Warschau aus brachten sie Privatleute im Auto nach Berlin. »Hier hatte ich keine Angst mehr.«
»Ich habe Ludmilla angerufen.« Ludmilla Luzanova, einen der drei »Engel«, wie Martin Salzer vom Verein »Ermstal hilft« sie nennt, die ukrainischen Flüchtlingen Brücken ins Ermstal bauen.
»Kleinkinder wurden in den Zug gereicht. Manche Eltern sind zurückgeblieben«
Über soziale Netzwerke sind sie in fast der ganzen Welt erreichbar. »Ich kenne jemand, der Ludmilla kennt.« Die anderen Engel heißen Elena Menschekowa und Viktorija Minteva. Im Verein sind Hunderte Hilfsbereite vernetzt. Auch eine Dettinger Familie, die ihre Wohnung jetzt mit Olga und ihrer achtjährigen Tochter teilt. Mit dem Zug kam die Ukrainerin am 10. März an. Am 4. April begann sie in einer Gärtnerei zu arbeiten, wie in der Ukraine, ein Job, den ebenfalls »Ermstal hilft« vermittelt hat. Der Verein hat auch Deutsch-A1-Bücher für den so nötigen Spracherwerb dank Spenden beschaffen können. Die treibenden »Ermstal hilft«-Kräfte Martin Salzer und Simon Nowotni üben allerdings Kritik daran, dass das Ehrenamt überfordert ist und oft Hauptamtliche die richtigen Ansprechpartner wären. »Seit dem 1. Juni ist der Landkreis mit seinen Jobcentern und Integrationsbeauftragten für die Betreuung der Flüchtlinge zuständig. Doch es ist kaum jemand erreichbar«, sagen die beiden.
»Es läuft hervorragend. Aber es fehlt an hauptamtlichen Ansprechpartnern!«
»Ermstal hilft« wollte eigentlich nur den Anschub für die ersten Wochen der Flüchtlinge in Deutschland geben. Doch es sei anders gekommen. Für offizielle Deutsch-Integrationskurse gibt es Wartelisten, also schritt »Ermstal hilft« so weit es ging voran, doch an geeigneten Räumen und Ausstattung wie Whiteboards oder Flipcharts fehlt es oft. »In den Ferien dürfen wir nicht in Schulen unterrichten – weil keine Hausmeister dort sind.«
Die hilfsbereiten Wohnungsgeber wiederum, die allein in Dettingen 109, im gesamten Ermstal rund 400 Flüchtlingen das so nötige Dach über dem Kopf gegeben haben, erledigen viele Behördengeschäfte für die Ukrainer. Nowotni umschreibt das als Gutmütigkeit der Gastgeber, die dafür aber eigentlich gar nicht zuständig wären – als Lückenfüller aber gerne in Anspruch genommen werden.
Die Integrationsbeauftragte des Landkreises in Dettingen als zentrale Anlaufstelle für die Menschen aus der Ukraine zu etablieren, ist der noch nicht erfüllte Wunsch der »Ermstal hilft«-Macher. »Wir wollen ihnen eine Perspektive geben«, macht Salzer deutlich, »im Ermstal gibt es eine tragfähige Struktur«. Die aber Ehrenamtliche nicht allein stemmen können. Ein hauptamtliches Positiv-Beispiel hat Bad Urachs Bürgermeister Elmar Rebmann gleich zu Beginn des Ukraine-Kriegs gegeben: »Er sagte, wenn Ihr Wohnraum für Flüchtlinge braucht, mieten wir den gesamten ersten Stock der Jugendherberge an.« Der Landkreis Reutlingen baut derweil das ehemalige Altenheim der EBK-Blumenmönche in der Buchhalde zu einer Unterkunft mit Platz für 60 Flüchtlinge um. Salzer und Nowotni wünschen sich mehr behördliche Flexibilität und Präsenz statt Trägheit und Zuständigkeitsgeschiebe – im Sinne der raschen Integration der ukrainischen Flüchtlinge, die auch nicht Wochen oder Monate auf ihre erste finanzielle Unterstützung warten sollen.
Julia aus Odessa hat vom Dettinger Alt-Gemeinderat Dieter Schweizer große Unterstützung erfahren: In sein Haus durfte sie nach ihrer Flucht mit ihren beiden Töchtern ziehen. Obwohl sie keine Fahrkarten hatten, kamen sie – »die Schaffnerin hatte Mitleid mit uns« in zwei Zügen erst nach Lwiw, dann nach Polen und schließlich nach Berlin. Ein Bus einer Hilfsorganisation brachte sie weiter nach Dortmund zu Verwandten, doch dort konnten sie nicht bleiben.
»In den Ferien dürfen wir in den Schulen nicht unterrichten – weil keine Hausmeister da sind«
In Dettingen schon. Wo an der Schillerschule Julias 20-jährige Tochter Valerie, die in Odessa Germanistik studiert hatte, jetzt ukrainischen Kindern Deutsch beibringt. »Valerie hat nach ihrer Flucht hier online ihr Studium abgeschlossen – mit 100 von 100 Prozent«, berichtet Julia. Sie selbst ist inzwischen nochmal in die Ukraine zurückgekehrt, mit einem der 21 Hilfstransporte von »Ermstal hilft«: um ihre eigene Mutter und die Oma aus Ismail in der Nähe der rumänisch-ukrainischen Grenze herauszuholen. »Julia ist eine Heldin«, rühmt Martin Salzer sie. Eine Heldin, die in der neuen Fluchtheimat ein bis zwei Tage die Woche als Hilfsköchin in Dettenhausen arbeitet und im Übrigen viel Deutsch büffelt. Ihr Mann wartet in Odessa auf sie. Er darf wie alle Männer unter 60 nicht ausreisen, könnte zu den Waffen gerufen werden. Zur Verteidigung des angegriffenen Landes.
Die vielen Engagierten des Vereins »Ermstal hilft« tun derweil unverdrossen weiter ihre so wichtige Arbeit. »Es läuft hervorragend«, sagt Salzer. Dennoch sehen sie auch ihre Grenzen. »Wenn jetzt noch Wohnungsanfragen kommen, wird abgesagt. Das Kontingent ist erschöpft.« Es ist derzeit keine Bleibe mehr zu vergeben. Wohnraum wird also weiterhin gesucht und kann über die Homepage der Initiative jederzeit angeboten werden.
Dort ist auch ein Spendenkonto benannt, von dem unter anderem weitere dringend notwendige Medikamente für Kriegsopfer bezahlt und in die Ukraine gebracht werden können; schon bisher sind dafür 30.000 Euro zusammengekommen. Auch Sachspenden werden weiterhin gebraucht: Kleidung kann an den sozialen Kleiderläden abgegeben werden, haltbare Lebensmittel – Dosen oder Fertiggerichte etwa – für die nächsten Hilfstransporte im ehemaligen Laden der EBK-Blumenmönche in der Metzinger Straße.
Die Annahmestelle schmeißen die Familie Czudaij und das Ehepaar Martell. Sachspenden koordinieren, holen und bringen die Becks aus Metzingen, zum Beispiel ein dringend benötigtes Sofa vom Spender zum Empfänger. Anja Webb koordiniert Sprachkurse, die »drei Engel« halten sie. »Wir sind ein Netzwerk«, zieht Nowotni den Fokus bewusst breiter, auf all die, die sonst weniger genannt werden.
»Wir wollen ihnen eine Perspektive geben: Im Ermstal gibt es eine tragfähige Struktur«
Vorbilder, die Nachahmer suchen, gibt es auch in der Geschäftswelt: So zwackt das Bäckerhaus Veit von jedem Ermstäler Brötchen 10 Cent für die Ukraine-Hilfe ab und legt selbst weitere 10 Cent drauf. So sind seit Ende Februar bereits fast 19.000 Euro zusammengekommen, berichtet Susanne Erb-Weber vom Bäckerhaus.
Rund 100 Tage gibt es den Verein "Erms- tal hilft". Er zieht an einem Strang für Menschen wie Olga und Julia, mit denen Simon Nowotni und Martin Salzer zum Schluss des Pressegesprächs die Ukraine-Flagge ausbreiten. Wenn doch nur endlich wieder Frieden wäre in der Heimat der beiden Frauen. (GEA)