STUTTGART. Während besonders der Kulturbereich von der Pandemie empfindlich getroffen ist, gelingt es den Organisatoren des Eclat-Festivals im Theaterhaus Stuttgart immer wieder, ihre Veranstaltungen gegenüber den Vorjahren noch zu erweitern und digital weltweit ohne Einbußen auszustrahlen. Bestattungen, Tod, Unterdrückung, Unterwerfung, der schwankende Grund, auf dem wir stehen, und eine real-virtuelle Welt der Pilze waren diesmal die Themen am Wochenende.
Mit »Figura« stellte Isabel Mundry, ausgehend von Vokaltraditionen, erweitert um Geräusche und Schattierungen per Hand am Schalltrichter der beiden exzellenten Trompeter Marco Blaauw und Markus Schwind, das zweigeteilte Gespräch ins Zentrum einer noch unvollendeten Komposition.
Mit »Anonyme Bestattungen« von Robin Hoffmann gab das Ensemble Ascolta Raum für die Empfindungen Hinterbliebener. Zwei unterschiedlich gegeneinander verschobene Tonreihen ergeben hier 225 ziemlich ähnliche Klangabläufe mit gegenläufigen Kontrapunkten meist in Dreiergruppen zwischen Posaune, Vibrafon, Marimbafon, Klavier, Gitarre und Cello. In einheitlichem Tempo, Lautstärke, Rhythmus und neutraler Phrasierung bleibt die Musik statisch litaneiartig. Während der Dauer von vier Stunden kann so die Vision einer Ewigkeit entstehen. Skelette einer Musik oder Musik für Skelette?
Verblüffende Ergebnisse
Währenddessen finden in anderen Räumen weitere Darbietungen statt. Der belarussische Videokünstler Sergey Shabohin erzählt in seinem Projekt »Practises of Subordination«, seinem totalitären Archiv, auf 18 Tafeln alltägliche Geschichten, in denen der Staat sich in das Leben der Bürger gewaltsam einmischt. Dank der Kooperation mit der Kunsthistorikerin Lena Prents und der elektronischen Vertonung von Christoph Ogiermann konnte daraus ein erschütterndes Bild der gegenwärtigen Situation in Belarus entstehen.
Mit der Composer-Performerin Oxana Omelchuk und der Lyrikerin Valzhyna Mort und ihrer »Musik für Tote und Auferstandene«, einer Lesung und Musikperformance, kamen noch einmal zwei Künstler aus Belarus zu Wort. Omelchuk praktizierte eine artistisch-archaische Elektronik mit emsigem Stöpseln farbiger Kabel, was das düstere Thema etwas lebendiger machte. Die wuchtige Poesie Valzhynas ließ dazuhin ahnen, welche Macht Worte bei ihr auch nach ihren Übersetzungen haben.
Auflockernd und erheiternd wirkte dagegen ein Rückwärtsgang in die Zukunft. Wie in einem Museum standen auf der Bühne sieben elektrische Tasteninstrumenten aus den 70ern bereit. Die Kompositionsaufträge, die das Interpretenduo Hannah Weirich und Ulrich Löffler in der Hoffnung auf die Belebung der Kammermusikliteratur für Violine-Klavier ausschrieb, führten zu verblüffenden Ergebnissen. Die fünf jungen Preisträger hatten hörbares Vergnügen an der Verlängerung von Tönen, stufenlosen Glissandi, Wechseln und Mischungen von Klangfarben und Geräuschen, wie sie das Klavier nicht ermöglicht.
Jeder komponierte auf seine Art geistvoll mit Humor und viel Spielwitz fern von ausgetretenen Pfaden, von den beiden Interpreten mit kabarettistischem Gespür umgesetzt. Eivind Buene: »Mixed Metaphors« (Minimoog), Oxana Omelchuk: »Die Zähmung der Stille« (Fender Rhodes), Milica Djordjevic: »Neues Werk« (Yamaha YC-45D Orgel), Dariya Maminova: »Microstories About Tenderness« (Minimoog), Gordon Kampe: »Tanzen« (Hohner Clavinet, Philicorda-Orgel und Hohner String Melody). Es könnte der Anfang eines neuen Genres sein.
Mit »HypheMind« stellte das Team um den Komponisten Andreas Eduardo Frank, den Texter und Regisseur Matthias Rebstock, Bühnen-, Kostümbildnerin und Grafikerin Sabine Hilscher, den drei Designern Valentin Alisch, Niclas Berlec und Tobias Hönow ein Musiktheater mit praller Vitalität und barocker Wucht auf die Bühne. Tragende Rollen kamen den Sänger-Schauspielern der Neuen Vocalsolisten Stuttgart zu, die als Solisten, Ensemble und Chor mit dem Percussionisten Miguel Angel Garcia Martin agierten; er betreute auch die Objekte und die gesamte Performance.
Tempo und Ironie
Die mit extremen Anforderungen konfrontierten Vocalsolisten scatteten, rappten, spielten sich komplementär die Bälle zu; simultane Glissandi gelangen auch im Verbund mit maschinellen Vorgängen. Thema des Stücks war die Erforschung des Verflechtens und Verwebens von Netzwerken, wie es Hyphen und Mycelien untereinander leben, indem sie den Boden erkunden, Wurzelfäden schlingen, Botenstoffe aufnehmen und uns so auch informieren.
Die Handlung selbst besteht in einer Expedition in die üppige Welt der Pilze. Inwieweit können wir von ihnen lernen, um unsere zahlreichen Krisen zu überwinden? Im Lauf des Stücks, das ständig neue Fragen aufwirft, etwa wie Pilze denken oder was geschieht, wenn wir auf einmal alle selbst Pilze sind, werden auch Publikumsbefragungen in Laborsituationen mit einbezogen. Schlüsselfrage bleibt aber, ob wir noch zu einem Miteinander von Mensch, Natur und Maschinen kommen können. Ist es also noch nicht zu spät?
Das Publikum, in eine Fülle von Handlungssträngen, Aktionen, Videoprojektionen und Überraschungen einbezogen, ließ sich von dem Spiel hinreißen und vermisste ein Orchester offenbar gar nicht. Tempo, Satire und Ironie hielten alle in Atem. Auch Pilzexperte John Cage hätte wohl an diesem Stück seine Freude gehabt. (GEA)