TÜBINGEN. Sie haben gerungen, diskutiert – und dann doch den Stecker gezogen. Zwei Monate ließ das Zimmertheater Tübingen, auch als ITZ bekannt (Institut für theatrale Zukunftsforschung), den Spielbetrieb ruhen, weil zeitweise ein größerer Teil des Ensembles coronapositiv war. Jetzt kehrt man wieder zurück – und zwar mit Volldampf. Einer neuen Fassung von »Im Antlitz der Maschinen« ab 8. April folgt ein dichter Premierenreigen: »Nee, ich bin bloß fett geworden …« am 9. April, »Schimpf & Schande« am 23. April, »Wie ein zarter Schillerfalter« als Audiowalk ab 1. Mai, das VR-Brillen-Abenteuer »Vreedom« ab 7. Mai sowie am 4. Juni das Solo »Making of«.
Auch bei der Tübinger Kulturnacht am 7. Mai ist man dabei (unter anderem mit »Vreedom«). Zudem wird Ensemblemitglied Roman Pertl in der Konkreten Sammlung des Reutlinger Kunstmuseums performen. Zum ersten Mal ist das ITZ zudem bei den Baden-Württembergischen Theatertagen vertreten: mit dem Stück »100% ernst und 100% ironisch« am 8. Juli in Heilbronn. Nach dem großen Cut also das große Comeback. Passend dazu brezelt beim Pressegespräch die Sonne auf die Terrasse hinterm Theater. »Alle scharren mit den Hufen!«, frohlockt Peer Mia Ripberger, einer der beiden Intendanten. Der Kirschbaum hinterm Balkon feiert mit voller Blütenpracht mit.
In Zeiten von Krieg und Pandemie
Alles rosa also? Mitnichten, die Pandemie ist weiter da, plötzlich auch ein Krieg mitten in Europa. »Die Krise als Normalzustand« konstatiert Dieter Ripberger, der andere Intendant. Man hat Hilfsgüter eigenhändig an die ukrainische Grenze gefahren, trotzdem fühle man sich hilflos. Soll man den Spielplan umwerfen angesichts der Lage? Man hat sich dagegen entschieden. Will sich nicht die Agenda vom Krieg diktieren lassen.
Stattdessen lässt man viele Produktionen noch einmal zu Wort kommen, die in der Pandemie unter die Räder kamen, oft nach wenigen Aufführungen schließen mussten. Dazu kommen zwei Produktionen, mit denen man in den Stadtraum zieht. Sowie zwei neue Stücke.
Zunächst aber ab 8. April »Im Antlitz der Maschinen«. Es geht um einen Filmabend unter Freunden. Um Selbstinszenierung, soziale Medien, digitalen Kapitalismus, wie Dramaturg Ilja Mirsky erläutert. Von der ursprünglichen Produktion ist nur das Bühnenbild und Darstellerin Anaela Dörre übrig geblieben, alles andere ist neu. Auch neue Videos wurden gedreht. Ein heiteres Vergnügen mit fünf Schauspielern, das an die vielen Zoom-Calls der Pandemie anknüpft.
Das Solo »Nee, ich bin bloß fett geworden«, das am 9. April folgt, kam bereits vor drei Jahren auf die Bühne: Monolog einer Frau um die 30, die in ihrem sozialen Umfeld unter Druck gerät in Sachen Kinderkriegen. Anaela Dörre tritt im Stück in einen Dialog mit Figuren aus »Peter Pan« – alle von ihr selbst dargestellt per Video. Es soll das letzte Mal sein, dass das Stück aufgelegt wird.
Mit Kraftausdrücken geht es weiter am 23. April, wenn das von Hannah Zufall geschriebene und inszenierte Stück »Schimpf & Schande« im Löwen startet. Aktuell angesichts der Hasstiraden im Internet nehmen Lisette Holdack, Seraina Löschau und Morris Weckherlin die Schimpfkultur unter die Lupe.
Gerne hätte man auch »Wie ein zarter Schillerfalter« noch einmal in den Löwen gebracht. Doch die opulente Produktion ließ sich nicht auch noch auf der Bühne realisieren. Also hat man sie in einen Audiowalk verwandelt – wollte man doch ohnehin in den öffentlichen Raum. Ab 1. Mai kann man losziehen, mit eigenem Smartphone und Ohrstöpseln. Die nötige App zieht man sich per QR-Code im Schaukasten vorm Zimmertheater herunter – von der Homepage geht es auch.
Spazierend kann man ins Schicksal von Start-up-Gründerin Sarah eintauchen, die trotz Erfolgs an ihrem Leben (ver-)zweifelt. Das alles zur Musik von Konstantin Dupelius. Wer kein Smartphone hat oder mit der Technik nicht klarkommt, kann sich freitags bis sonntags zwischen 13 und 18.30 Uhr ein Gerät ausleihen und erklären lassen. Der Audiowalk geht bis Spielzeitende am 2. Juli.
Die zweite Produktion im Stadtraum folgt ab 7. Mai: Bei »Vreedom« können jeweils drei Besucher gemeinsam mit VR-Brille für 15 Minuten in eine virtuelle Theaterwelt eintauchen. Und zwar an verschiedenen Orten in der Stadt, die kurzfristig auf der Homepage, auf Facebook und Instagram veröffentlicht werden. In dem von Ilja Mirsky programmierten virtuellen Erlebnis geht es um die Isolation im digitalen Raum, um das Eintauchen in Welten jenseits der Alltagsrealität. Im September 2020 war »Vreedom« gestartet, wenig später kam der Lockdown.
Hochstapeln als Lebensform
Den Schlusspunkt setzt »Making of« ab 4. Juni im Zimmertheater. In dem selbst entwickelten Stück geht es um Hochstapler und Betrüger, wie sie auf Netflix gerade Konjunktur haben, wie Dramaturgin Jana Gmelin sagt. Lisette Holdack nimmt als Solo-Darstellerin das Hochstapeln als Lebensform unter die Lupe. »Das hat auch was mit uns als Theater zu tun«, so Gmelin. Schließlich sei es ja gerade der Job von Schauspielern, anderen etwas vorzuspielen. Regie führt Charlotte Lorenz.
Die Stücke beginnen in der Regel um 20 Uhr, Einführung ist um 19.40 Uhr. Inzwischen wird auch die Zimmerbühne wieder bespielt, sodass drei Spielstätten zur Verfügung stehen. Damit hoffe man flexibel zu sein, auch im Falle positiver Corona-Tests, so Dieter Ripberger. Man hoffe, dass ab April die Testungen im Ensemble flexibler gehandhabt werden können. Im Moment seien PCR-Pooltests vorgeschrieben, deren Ergebnis erst kurz vor Vorstellungsbeginn feststehe. Die Rückkehr zu Schnelltests würde frühzeitigeres Reagieren erlauben. Was das Publikum betrifft, so setze man weiter auf Sicherheit. Die Luftfilter blieben aktiv, und wer das wolle, könne weiterhin mit Maske kommen. »Da wird man auch nicht angeguckt«, so Dieter Ripberger. (GEA)
PREMIEREN BIS SAISONENDE
Im Antlitz der Maschinen, von Peer Mia Ripberger, ab 8. April, Zimmertheater. Nee, ich bin bloß fett geworden …, von Anaela Dörre und Peer Mia Ripberger, ab 9. April, Zimmertheater. Schimpf & Schande, von Hannah Zufall, ab 23. April, Löwen. Wie ein zarter Schillerfalter, von Peer Mia Ripberger, Audiowalk, ab 1. Mai. Vreedom – eine dreidimensionale Befreiung, von Kollektiv Mosaik, ab 7. Mai, im Stadtraum. Making of, von Charlotte Lorenz, ab 4. Juni, Zimmertheater. (GEA) zimmertheater-tuebingen.de