TÜBINGEN. »Der Freiheit eine Gasse« – das ist das Motto des baden-württembergischen Literatursommers 2024. In Tübingen eröffnet die Reihe mit einem Abend, der sich einem weniger bekannten Aufklärer widmet, und mit einem prominenten Gast, der über diesen Aufklärer mit größter wissenschaftlicher Hingabe forschte.
Jan Philipp Reemtsma promovierte über Christoph Martin Wieland, 1993. 2023 legte er seine umfangreiche Wieland-Biografie vor, ausgezeichnet mit dem Bayerischen Buchpreis, nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse, die erste Wieland-Biografie seit 70 Jahren: »Der Erfinder der modernen deutschen Literatur«, so der Titel des Buches.
Scharfer und geduldiger Blick
Jan Philipp Reemtsma versteht es, mit einem zugleich scharfen und geduldigen Blick für geschichtliche Umstände, Abläufe und deren anekdotische Qualität, Interesse für Christoph Martin Wieland (1733-1813) zu wecken und dieser Figur neue Farbe zu geben. »Wer nicht in das Pathos der großen Geschichtserzählung vernarrt ist«, bemerkt er früh am Abend, »der wird sich dem Pathos der so vieles entscheidenden Augenblicke nicht entziehen können.« Seine Lesung könnte es belegen.
Nun: In Tübingen war auch Wieland, aber nicht gerne. Zwischen 1750 und 1752, so erfährt man, studierte er dort und äußerte schriftlich über diese Zeit vor allem: »Mir ekelt so vor dem akademischen Leben.« Für die Französische Revolution jedoch begeisterte Wieland sich – aus der Distanz, in der Rolle des Beobachters. »Ich halte es für eine Glückseligkeit, um welche uns die Nachwelt beneiden wird, dass wir Zeitgenossen und Zuschauer dieses größten und interessantesten aller Dramen, die jemals auf dem Weltschauplatze gespielt wurden, gewesen sind« – mit diesen Sätzen von Wieland beginnt Jan Philipp Reemtsma seinen Vortrag.
Enttäuschender Aufenthalt in der Schweiz
Reemtsma folgt in Tübingen knapp dem Lebensweg Wielands, der 1733 nahe Biberach geboren wurde und schon als 17-Jähriger mit einem anonym veröffentlichten Lehrgedicht verblüffte. »Er wollte Schriftsteller werden, mit großer Konsequenz.« Nach einem enttäuschenden Aufenthalt in der Schweiz kehrte Wieland in den Heimatort zurück, führte dort das Archiv. »Und schrieb nebenher die modernste Prosa, die die deutsche Literatur auf eine völlig neue Stufe hob.« 1772 holte ihn die Herzogin Anna Amalie von Sachsen-Weimar zur Erziehung ihrer Söhne, vor allem des Erbprinzen Carl August, nach Weimar. Dort erwarb Wieland ein Hofgut und gründete eine Zeitschrift, den »Teutschen Merkur«, mit dem er, in Anlehnung an den »Mercure de France«, Weimar zur Kulturhauptstadt erheben wollte.
In seinem Merkur veröffentlichte Wieland eine Reihe der »Göttergespräche«, in denen er Juno und Jupiter über die Französische Revolution debattieren ließ, veröffentlichte später auch die Reihe der »Gespräche unter vier Augen«, in denen jeweils zwei Zeitgenossen über Fragen und Folgen der Revolution stritten. Willibald und Heribert hießen die fiktiven Gesprächspartner im März 1798, als die Situation in Frankreich längst verfahren war und auch Wieland einiges von seinem revolutionären Optimismus verloren hatte. Willibald ist es, der den Franzosen – »sofern sie ihr Gemeinwesen retten wollen« – rät, einen Diktator auf Zeit zu wählen, und für diesen Posten Napoleon empfiehlt – anderthalb Jahre, ehe derselbe durch einen Staatsstreich in dieselbe Situation kommt.
Groß und klein zugleich
Christoph Martin Wielands scherzhafte Prognose wurde von seinen Zeitgenossen belächelt, später dann aber von Napoleon in einer englischen Zeitschrift gelesen. Und so kam es, dass Napoleon, als er, nun Kaiser der Franzosen, 1808 zum ersten Fürstenkongress nach Weimar kam, unbedingt Wieland kennenlernen wollte. Der hatte sich zwar krankheitshalber entschuldigen lassen, kam dann, auf hartnäckige Nachfrage Napoleons, aber doch, sodass der Bürger Biberachs dem Weltgeist begegnete, beide anderthalb Stunden beisammen standen, vor allem der Franzosenkaiser redete, wofür der Biberacher, im Französischen nicht ganz so flüssig, dankbar war. »Zwei auf ihre Art große und von Statur her kleine Männer.« Der Kaiser entließ den Dichter schließlich aus dem Gespräch, weil der beiläufig beklagte, nicht mehr stehen zu können. (GEA)