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Aktuell Lesung

Vom Zeigen und Verhehlen: Judith Hermann in der Reutlinger Stadtbibliothek

Judith Hermann liest in der Reutlinger Stadtbibliothek aus ihrem autobiografischen Text »Wir hätten uns alles gesagt«. Und lässt Verwunderung eines Buchhändlers aus Innsbruck über Reutlingen aufblitzen.

Judith Hermann in der Reutlinger Stadtbibliothek.
Judith Hermann in der Reutlinger Stadtbibliothek. Foto: Christoph B. Ströhle
Judith Hermann in der Reutlinger Stadtbibliothek.
Foto: Christoph B. Ströhle

REUTLINGEN. Das ging runter wie Öl. »Was ist in diesem Reutlingen? Alle Autoren gehen so gerne nach Reutlingen.« Diese Sätze bekam die Berliner Autorin Judith Hermann, eine wichtige Stimme der deutschen Gegenwartsliteratur, von einem Buchhändler im österreichischen Innsbruck zu hören. Er hatte sie gefragt, wo sie als Nächstes lese. Das Reutlinger Stadtmarketing hätte sich das nicht schöner ausdenken können. Judith Hermann, für die der Besuch in der Achalmstadt eine Premiere war, versprach denn auch, nachdem sie diese Episode in der Reutlinger Stadtbibliothek erzählt hatte, augenzwinkernd: »Ich werde von jetzt ab auch immer sehr gerne nach Reutlingen kommen.«

Damit gelang ein heiterer Einstieg in ihre Lesung mit Gespräch anlässlich des Tags der Bibliotheken, veranstaltet von der Reutlinger Stadtbibliothek in Kooperation mit den Freunden der Stadtbibliothek. Renate Overbeck und Bernhard Rank fühlten der Autorin von Erzählbänden wie »Sommerhaus, später« und »Nichts als Gespenster« und den Romanen »Aller Liebe Anfang« und »Daheim« gut vorbereitet und feinfühlig auf den Zahn. Im Mittelpunkt stand dabei Judith Hermanns autobiografisches Buch »Wir hätten uns alles gesagt« (S. Fischer Verlag), das auf der Frankfurter Poetik-Vorlesung beruht, die sie im Mai 2022 an der Goethe-Universität hielt.

Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann

Sie habe lange gezögert, als die Anfrage für die Frankfurter Poetik-Vorlesung kam. Eine solche zu halten, habe für sie etwas von einer großen Mutprobe gehabt, sagte Judith Hermann in Reutlingen. Die Reihe der Autorinnen und Autoren, die vor ihr in diesem Rahmen sprachen, ist illuster: Ingeborg Bachmann und Heinrich Böll zählen ebenso dazu wie Christa Wolf und Friedrich Dürrenmatt, Hilde Domin und Daniel Kehlmann. Es sei ein Angebot gewesen, das abzulehnen im Grunde unmöglich gewesen sei, »sonst wäre man kein Schriftsteller«.

Als sie sich schließlich ans Schreiben machte, Covid-bedingt »in einer Isolation, die ich fürs Schreiben als sehr beglückend empfunden habe«, sei sie davon ausgegangen, dass die Rede nie in gedruckter Form erscheinen werde. Dieser Gedanke habe sie beruhigt. Erst nach der gehaltenen Vorlesung sei ihr klar geworden, dass der sehr persönliche Text »nun weg, in der Welt ist«. Folglich habe sie ihn auch drucken lassen können. Er trägt die Widmung »Für meine Familie«.

Trickreiche Darbietung

Wie Sigrid Löffler in der Süddeutschen Zeitung treffend beschrieb, ist Judith Hermanns Text, der sich um eine schwierige Kindheit, eine Psychoanalyse und einen verstorbenen Freund dreht, »eine trickreiche literarische Darbietung des Enthüllens und Verbergens, des versteckten Zeigens und offenbarenden Verhehlens«. Sätze wie »Vielleicht träume ich nicht, weil ich schreibe« hallen nach. Auch bleibt das Bild einer Puppenstube hängen, das zum Ort einer Familienaufstellung wird. Die Puppe Anna, Judith Hermanns Alter Ego, fand sich nach Jahrzehnten wieder, übrig geblieben, »das siebente Geißlein, immer noch da«, wie die Autorin schreibt. Die Puppe platzierte sie beim Schreiben auf ihrem Schreibtisch, erst mit dem Rücken zu sich, dann ihr zugewandt.

Sie schreibe über sich, am eigenen Leben entlang, »ein anderes Schreiben kenne ich nicht«, lässt Judith Hermann ihre Leserinnen und Leser wissen. Die Ich-Erzählerin, das sei sie. Und sei doch »eben genau nicht ich«. Vielmehr seien die Figuren »Träume, aufgeschriebene Wünsche«.

Die Geschichte als Schutzraum

Generell sei die Geschichte ein Schutzraum für die Erzählerin, ein Gehäuse. Dieser Schutzraum entstehe aus dem Verschweigen. Trauma, Verlust, Missbrauch, Trauer, Abwesenheit, Tod und Angst - es bleibe einem empathischen Leser überlassen, sich das auszudenken. Oder außen vor zu bleiben. »Es genügt, dass ich weiß, worum die Erzählerin trauert, und ich möchte das gerne für mich behalten.« So ist die erzählerische Verfremdung für Hermann, wie sie schreibt, ein Zaubertrick. Die Erzählung lenke den Leser vom Eigentlichen ab, »sie lenkt ihn von mir ab«. (GEA)