REUTLINGEN. Eine überaus kreative Traditionspflege für Kopf, Herz und Beine: Vincent Herring trat am Sonntagabend mit seinem Quartett Soul Chemistry im Pappelgarten auf und entführte die rund 70 Zuhörer in ein wohlklingendes Hardbop-Wunderland.
Er ist ein sanfter Gestalter schier endloser Melodielinien vor einem pulsierenden Klaviertrio. Ein begnadeter Techniker, der seine Muskeln spielen lassen kann, aber auch ein ins Mikrofon flüsternder Löwe, der es genießt, sich zurückzunehmen. Ein Traditionsverwalter gewiss, aber einer, der die Stimmung der heißen 60er-Jahre zu kultivieren versteht und mit seinen zum Teil lasziven Soul-Kompositionen einen unglaublichen Groove transportiert. Eigentlich verwunderlich, dass es Vincent Herring nie in die Liga von Branford Marsalis oder Roy Hargrove geschafft hat. Trotz seines unbestrittenen Könnens und seinem mächtigen Ton wurde der US-Saxofonist nie einer der ganz Großen seiner Generation, der Mitte der 1960er-Jahre geborenen »young lions«.
Nein, Vincent Herring ist kein Wynton Marsalis, auch wenn ihn der schon des Öfteren engagiert hat. Im Rampenlicht bei Festivals und Galakonzerten steht Herring selten, aber seit Jahren ist er eine feste Größe des Cannonball-Adderley-Erbes, ein verlässlicher Traditionalist mit schier unerschöpflicher Klangfantasie. Da schimmern Ellington-Zitate durch die Stücke, von irgendwoher schleicht sich ein Soul-Rhythmus ein und das grandiose »Many ways of desire« verliert sich im Zwiegespräch von Bass und Klavier.
Viel Platz ist für die langen melodischen Improvisationen des Leaders, aber wann immer sich Gelegenheit bietet, lassen auch die anderen ihre Fähigkeiten aufblitzen. Sein langjähriger Begleiter Joris Dudli beweist, wie sensibel er sein Drumset beherrscht. Den Kontrabass zu impulsivem Eigenleben erweckt Essiet Essiet – aus Nigeria, wie Herring gerne erzählt. Aber der fingerfertige Bassist ist so wenig in Westafrika geboren wie der quirlige Schlagzeuger Amerikaner ist, auch wenn der schon lange den US-Pass besitzt.
Meister des Understatements
Pianist David Kikoski zeigt ebenfalls sein erstaunliches Können, indem er die rechte Hand quirlig laufen lässt und dunkle Akkorde in die Tasten stemmt. Elegisch wird es im zweiten Set immer dann, wenn Herring wieder ins Geschehen eingreift mit mächtigem, warmem Ton auf dem in der ersten Hälfte etwas zu lauten Altsaxofon.
Vincent Herring ist ein Könner in den großen Schuhen von Charlie Parker, ein gewandter Nachfolger von Cannonball Adderley. Er ist ein Meister des Understatements, der seinen Spaß hat an skurrilen Wendungen und kleinen Gimmicks, über die er sich mit feinem Lächeln freuen kann. Über eigene Gedankenblitze ebenso wie über die einfallsreichen Eskapaden seiner Mitmusiker. (GEA)