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Tanztheater Tatü im Sudhaus Tübingen: Zehn Menschen und ein Teddybär

Rettend oder zerstörend? Das Tanztheater Tatü beschäftigt sich im Sudhaus Tübingen mit dem Exzess.

Nach dem Exzess das erschöpfte Zusammensinken:  Szene aus dem Tanztheaterstück des Tanztheaters Tatü bei der Aufführung im Sudha
Nach dem Exzess das erschöpfte Zusammensinken: Szene aus dem Tanztheaterstück des Tanztheaters Tatü bei der Aufführung im Sudhaus Tübingen. FOTO: REHMANN
Nach dem Exzess das erschöpfte Zusammensinken: Szene aus dem Tanztheaterstück des Tanztheaters Tatü bei der Aufführung im Sudhaus Tübingen. FOTO: REHMANN

TÜBINGEN. Zehn Menschen, ein Bär und die Frage nach dem Exzess. Ist er zerstörerisch oder rettend, weil er uns hilft, Grenzen zu überschreiten? Und was taugt überhaupt zum Exzess? Wo gebe ich mich ihm hin und wo vermeide ich ihn?

Am Samstagabend hat sich das Tanztheater Tatü im Sudhaus exzessiv mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Die Performance haben Jutta Böske-Schejter und Katja Büchtemann choreografiert.

In welcher Weise sind Menschen also exzessiv? Aussagen stehen im Raum. »Ich bin Felina, 20, studiere Empirische Kulturwissenschaft und ich schwärme gern exzessiv.« – »Ich bin Lilli, 25, promoviere in Psychologie und ich kuschele gern exzessiv.« – »Ich bin Luise, 22, studiere Geoökologie und ich will exzessiv die Welt retten.« – »Ich bin Lisa, 36, habe Philosophie studiert und ich bin exzessiv unentschlossen.« – »Ich bin Jana, 28, Psychotherapeutin in Ausbildung und ich schreibe exzessiv Listen.« – »Ich bin Junya, promoviere in Neurowissenschaften und langweile mich exzessiv.« – »Ich bin Mara, 26, studiere maschinelles Lernen und ringe exzessiv mit Worten.« – »Ich bin Antonia, studiere Psychologie und interessiere mich exzessiv für Menschen.« – »Ich bin Kenneth und nach dem Training esse ich exzessiv belegte Brötchen.« Viele Menschen, viele Arten, exzessiv zu sein.

Jeder hat seinen eigenen Exzess

Gedämpftes Licht und traurig-träumerische Musik schallen durch den Saal. »Alle Jungen und Mädchen meines Alters gehen zu zweit durch die Straßen«, singt Françoise Hardy, »wissen genau, was es bedeutet glücklich zu sein. Jedoch ich, ich gehe allein durch die Straßen, denn niemand liebt mich.«

Dafür lieben sich die Tänzer selbst, fließen, jeder für sich, über die Bühne wie Algen in einem langsam strömenden Fluss, jeder mit einer Geste, die seinen persönlichen Exzess darstellt. Dabei stellen sie eindrucksvoll unter Beweis, dass sie die Techniken des modernen Tanzes beherrschen, wie zum Beispiel die Isolation der Körperteile, die es ihnen erlaubt, zackige Armbewegungen mit einem geschmeidigen Kreisen aus der Körpermitte zu verbinden.

Kenneth tritt nach vorne, flankiert von zwei Tänzerinnen, die das Kreisen der Gedanken in seinem Kopf hörbar machen. »Letztes Jahr wollte ich mir was beweisen und begann exzessiv zu trainieren.« – »Eine Zielvorstellung ist wichtig.« – »Am Anfang hatte ich noch zwei Ruhetage, doch dann trainierte ich acht Tage die Woche, auch nachts.« Schließlich beginnen seine Beine zu versagen und die Schmerzen steigern sich, was er durch immer mehr Ibuprofen ausgleicht. »Am Ende habe ich mich nur noch von Pillen und Pulvern ernährt.« So ist das mit dem Exzess, dessen heilsame Wirkung ganz schnell ins Zerstörerische umschlagen kann, wenn wir nicht aufpassen.

Robotertanz und Kampfkunst

Nach einem Robotertanz mit fast völlig synchronen, abgehackten Armbewegungen rollt sich die Gruppe zum meditativen Fluss der immer gleichen Melodie geschmeidig über den Boden, Lilli schmust exzessiv mit dem riesigen Teddybär, zwei Tänzerinnen finden sich zu einer kurzen Kontaktimprovisation zusammen, während andere Kampfkunstelemente in ihren Tanz einbauen. »Ich will Geld, Macht, ein Haus mit Pool, Partys, Drogen und – Sex.« Zwei Tänzerinnen stopfen ihre Einkaufstüten voller Schuhe, während die anderen fröhlich ums Goldene Kalb tanzen. Dann werfen sie die Schuhe im Übermut umher, und Junya rafft sie zusammen.

Auf Pergolesis meditatives »Stabat Mater« folgt ein aggressiver Techno, zu dem sie schattenboxen, bis sie nacheinander zusammenbrechen.

Nach einem erschöpften Gruppenkuscheln endet die Performance düster: »Ich habe exzessiv Angst zu sterben. Ich habe Angst, ein normales Leben zu führen, die Kontrolle zu verlieren, zu verzweifeln. Ich habe Angst vor Kontrollverlust.«

Nicht nur unsere Lust kann exzessiv sein, sondern auch unsere Angst. Dieses Spannungsfeld hat das Ensemble beeindruckend ausgelotet. (GEA)