REUTLINGEN. Partystimmung herrscht bei der Eröffnung der Ausstellung »New & Coming« am Freitagabend im Reutlinger Kunstverein. Über 150 Besucher sind gekommen. Dancebeats wummern, die Künstlerinnen Luana Gräbe und Naomi Semma malen sich gegenseitig die Lippen an, dann gehen sie auf den Keks. Nicht einander, sondern miteinander. Hand in Hand stolzieren sie über eine Matte aus selbstgebackenen Riesenkeksen, als wäre es ein Laufsteg. Cakewalk statt Catwalk. Anschließend sind die Besucher dran. Auch Kunstvereinsleiterin Julia Berghoff und die Vorsitzende Aline Lukaszewitz wagen ein Tänzchen.
Ausstellungsinfo
Die Ausstellung "New & Coming" ist im Kunstverein Reutlingen, Eberhardstraße 14, bis 26. Mai zu sehen, Mittwoch bis Freitag 14 bis 18 Uhr, Samstag, Sonn- und Feiertag 11 bis 17 Uhr. Der Eintritt ist frei. Am Samstag, 20. April, ist um 18 Uhr eine Weinverkostung in der Ausstellung. Am Mittwoch, 24. April, gibt es um 19 Uhr einen Künstlertalk. Am Freitag, 3. Mai, ist um 14 Uhr ein Kinderworkshop mit Jenny Winter-Stojanovic. (GEA)
www.kunstverein-reutlingen.de
Die partytaugliche Performance ist der Auftakt zu einer Schau von sechs jungen Künstlerinnen und Künstlern unter dem Motto »New & Coming«. Dass vieles hier ausgesprochen erzählerisch ist, Landschaften, Geschichten, Fantasieräume andeutet, zaubert vielen Besuchern ein Lächeln ins Gesicht. Doch bei genauem Hinsehen steckt mehr Konzept in vielen Arbeiten, als es den Anschein hat. Viel Beachtung finden gerade auch die unscheinbarsten Werke: eine Serie kleiner Rahmen mit jeweils einer einzelnen Zugfahrkarte drin. Darauf, mit Schreibmaschine getippt, eine Notiz, was der Inhaberin Naomi Semma auf der Fahrt widerfahren ist. Jeder Fahrschein eine kleine Geschichte.
Groß, plakativ und bunt fängt es hingegen auf der einen Seite der Etage an. Mit einem Sushihäppchen kurz vor dem Eintauchen in die Sojasoße. Oder einer Brezel mit Kapitänsbinde. Oder einem Golf-Aufschlag in Nahaufnahme. Ein Hauch von Pop-Art schwingt mit in diesen Bildern von Fortune Hunter. Und hintersinnige Ironie, wie Julia Berghoff in ihrer Einführung erläutert. Etwa wenn auf einem Bild Boxhandschuhe auf eine Computertastatur treffen. So fühlt es sich des öfteren an, wenn Mensch und Technik aufeinandertreffen.
Schummrige Räume der Resignation
Vanessa Luschmann führt auf ihren Bildern in eine Welt der Resignation und des Hinwegdämmerns. Schummrige Innenräume werden durch Beruhigungspillen erleuchtet. In comicartigen Linolschnitten fällt ein Gespenst in die Depression. Eine junge Frau ist vor ihrer Teetasse zusammengesunken. Aus Luschmanns Bildern schimmert ein Gefühl von Überforderung durch die Zumutungen des Alltags. Das jedoch in virtuoser fotorealistischer Maltechnik und mit dichter Atmosphäre.
Hannah J. Kohler kontert mit riesenhaften Fotografien, die etwas Surreales ausstrahlen. Sie selbst klemmt darauf artistisch in einem feudalen Türrahmen, biegt sich in dreifacher Ausfertigung über eine eiserne Brüstung. Zwei Frauen baden unmittelbar vor einem Betonbunker aus dem Zweiten Weltkrieg, durch den ein Tunnel ins Licht zu führen scheint. Monumentale Bilderrätsel, die, wie Berghoff ausführt, den Glauben an die Faktentreue der Fotografie untergraben.
In Folie gehüllt auf der Weide
Ähnlich rätselhaft ist eine große Videoarbeit von Naomi Semma, auf der man sie wie eine Statue reglos in verschiedenen Umgebungen sieht. Das eine Mal steht sie in Folien gewickelt auf dem Hof eines Schrotthändlers. Dann wieder von durchsichtigem Plastik umhüllt auf einer Wiese mit Rindern. Oder mit Papierfetzen beklebt am Straßenrand. Sie werde so zum Teil einer Landschaft und bleibe gleichzeitig ein Fremdkörper darin, bringt es Berghoff auf den Punkt.
Bei Levente Sücz verschmelzen nicht Künstler und Natur, sondern Malerei und Natur. Auf großgezogenen Waldfotografien entfaltet Sücz wilde, an Action-Painting erinnernde Farbschlachten. Mit den durchschimmernden Bäumen bilden die Farbschichten ein naturkünstlerisches Ökosystem auf höherer Ebene. In einer Installation bestückt Sücz zerklüftete Gesteinsbrocken mit kleinen Holzhütten und Sitzbänken. Auch diese Modell-Gebirgslandschaften lassen Natur und Kultur hintersinnig ineinander fließen.
Schließlich Leo Staigle, der in akribischer Malerei surreale Fantasielandschaften schafft. Wundersame Traumwelten, durch die Mikroben schweben und kubische Formen gleiten. Auch hier schimmern Anklänge an Naturlandschaften durch, doch werden diese Anklänge von Gesetzmäßigkeiten durchkreuzt, die der Physik der äußeren Welt widersprechen. Eine solche Traumlogik entsteht nur im Kopf. Alles in allem eine bild- und geschichtenstarke Schau einer jungen Künstlergeneration. (GEA)