NÜRTINGEN. Es war ein Experiment und es ist geglückt. Zum ersten Mal hatten die künstlerischen Leiter der Gitarrenfestspiele Nürtingen ein »Hochschulpodium« aufs Programm gesetzt. Katrin Klingeberg unterrichtet an der Musikhochschule Stuttgart, ihr Mann Sebastián Montes hat unlängst eine Professur in Saarbrücken angetreten. Warum nicht die Studierenden einbeziehen? Man tat das erst noch ein bisschen versuchsballonmäßig als Nachmittagsprogramm. Das Resultat: Bitte mehr davon!
Experimentell war auch, was da geboten wurde. Am spektakulärsten in der Vereinigung der Studierenden beider Hochschulen in dem Werk »Electric Counterpoint« von 1987 des Minimal-Music-Komponisten Steve Reich. 14 Spielerinnen und Spieler an akustischen Gitarren braucht es dafür, dazu zwei an E-Bässen und einer, Denis Makram, an einer elektrischen Gitarre, die wie ein solistischer Gegenpart funktioniert. Und Helmut Oesterreich, der das alles als Dirigent bravourös zusammenhält.
Kreiselnde Motivzellen
Das Stück besteht aus kleinen Motivzellen, die sich auf immer neue Weise überlagern. Da entfaltet sich erst eine hypnotische Klangwolke aus solch kreisenden Motiven, schwillt an, ebbt ab. Plötzlich ein neues Motiv in einer der akustischen Gitarren. Die E-Gitarre antwortet mit einem Gegenmotiv, einem »Counterpoint« oder Kontrapunkt. Das Motiv der akustischen Gitarre breitet sich wie ein Virus durch die Reihen der Gitarristen aus, wobei es sich abwandelt, sozusagen mutiert. Wieder entsteht ein hypnotisches Klangfeld, während der Solist an der E-Gitarre seinen Gegenpart beibehält. Und nun seinerseits eine Abwandlung seines Motivs einwirft. Was in den akustischen Gitarren die »Ansteckungswelle« eines neuen »Motiv-Virus« in Gang setzt.
15 Minuten lang zieht das Stück den Hörer so in immer neue Schwebezustände hinein. Ehe das Kreiseln der Motive ekstatisch kulminiert. Was für eine Leistung, all die Einzelstimmen so nahtlos zu verflechten!
Klangforschung à la Lachenmann
Der Auftakt war auf ganz andere Weise experimentell. Ein Quartett aus Saarbrücken stellt da ein Stück namens »Unordnung im Himmel« des mitspielenden Studenten Tarek Alali vor. In vier kurzen Sätzen ziehen klangliche Assoziationen an all das vorüber, was zuletzt die Welt heimgesucht hat: »Viren«, »Krieg«, »Hunger« und »Tod« lauten die Titel. Die Spieler nutzen dabei vor allem alternative Klangerzeugungen. Die Saiten werden - mit dem Instrument auf dem Schoß - mit kleinen Metallplättchen angeschlagen, mit Geigenbögen gestrichen, mit Bottleneck-Röhren und anderen Gegenständen traktiert. Heraus kommt eine geräuschhafte Klangszenerie, mal silbrig glitzernd, mal schrapend, mal fauchend, dazwischen nebelhafte Andeutungen von Melodik. Klangliches Abbild einer in Krisen zerrissenen Welt - eindrucksvoll! Tarek Alali hat sich bei diesen Klangforschungen an Helmut Lachenmann orientiert, wie er erzählt. Ein Stück mit Mut zur Avantgarde, von den Spielern mit großem Klanggefühl umgesetzt.
Die Kollegen aus Stuttgart setzen mit den »Instantaneas Mexicanas« von Manuel Ponce auf einen lateinamerikanischen Klassiker von 1938, in dem der Komponist auch Musik der indigenen Kulturen Mexikos verarbeitet. Munter schwingt der erste Satz dahin, später folgt eine in großer Zartheit ausgesungene Ballade, am Ende ein ausgelassen kreiselnder Tanz. Bewundernswert, mit welchem Feingefühl die sieben Spieler hier die Dynamik ausgestalten, vom feinsten Pianissimo bis zum jubelnden Forte. Und wie sie die Sätze gemeinsam zum Atmen und Blühen bringen. (GEA)