TÜBINGEN. Er spielt nicht nur Akkordeon, er verwendet das riesige Instrument als Klangquelle, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Die Rede ist von dem Franzosen Richard Galliano, der am Samstag im ausverkauften Sudhaus mit der französisch-italienisch-schwedischen Band Mare Nostrum das Publikum verzauberte. Die Vorschusslorbeeren für das seit 18 Jahren bestehende Trio waren keineswegs übertrieben, denn der 73-Jährige präsentierte beim Landesjazzfestival zusammen mit dem sardischen Trompeter und Flügelhornisten Paolo Fresu sowie dem schwedischen Pianisten Jan Lundgren ein Konzert, das zu Herzen ging.
Gallianos Stil, seine frappierenden Tempowechsel und sein Spiel auf dem Knopfakkordeon und der Accordina (eine Art Melodica mit Knopftastatur) unterliegen keinerlei modischen Einflüssen. Unermüdlich auf der Suche nach schönen Melodien, ist sein Ausdrucksspektrum mal jazzig, mal chansonesk. Dann wieder erinnert sein Spiel an den sogenannten New-Musette-Stil, eine traditionelle Spielart, die aus den Pariser Vorstädten stammt. Mit der bescheidenen Noblesse eines zu Weltruhm gekommenen Musikers zelebriert Galliano mit seinen beiden Mitspielern eine Musik, die einerseits sehr innerlich ist, zugleich das Innere emotional nach außen stülpt.
Aufregung am Flughafen
Dann verbindet sich sein weiches Akkordeonspiel mit den variablen Pianoklängen von Jan Lundgren und kontrastiert wundervoll mit den effektvollen Einwürfen von Paolo Fresu. Die Abstimmung mit dem italienischen Trompeter, dessen Instrument erst mit großer Verspätung am Stuttgarter Flughafen ankam und beim Veranstalter Martin Trostel für »dicke Schweißtropfen« sorgte, ist selbst in den allerfeinsten Nuancen gegeben. Vor allem, wenn der Sarde in Miles-Davis-Manier die gestopfte Trompete spielt oder wenn er wie bei einem ausklingenden Stück gut 30 Sekunden den Ton hält, geht ein leises Raunen durchs Publikum. Wiederholt nimmt Paolo Fresu die Motive von Galliano und dem meist als Verbindungsscharnier agierenden Lundgren auf und fabriziert mit hochsensiblem und variantenreichem Gebläse auf dem Flügelhorn Stimmungsbilder und große Gefühle.
Neben verjazzten Musette-Stücken, französischen Chansons wie »The windmills of your mind« oder auch mal einem schwedischen Volkslied imponiert das Trio vor allem mit eigenen Stücken. Besonders sind hier die Titel »Paris«, »Love Land« oder auch eine »allen Frauen im Saal gewidmete« Ballade, so der Charmeur Paolo Fresu, zu erwähnen. Immer wieder brechen die drei Musiker von Mare Nostrum die Musette- und Chansonmotive mit Bebop-Improvisationen auf und verwandeln sie in verjazzte Sehnsuchtsmelodien. Besonders dann kommt im bestuhlten Sudhaus-Saal geradezu euphorische Stimmung auf.
Anrührende Melancholie
Mare Nostrum vereinen kongenial Altbewährtes mit Experimentellem, klassisches Konzertieren mit zutiefst anrührender Melancholie. Dafür gibt es nach zwei Stunden - inklusive zweier Zugaben – stehenden Applaus, verbunden mit der Erkenntnis, dass sich das Akkordeon noch längst nicht überlebt hat. (GEA)