TÜBINGEN. Am Anfang steht das Fernweh. »Wo ich bin, will ich nicht mehr bleiben«, haucht Meret Becker auf der Sudhaus-Bühne, singt zartmelancholische Zeilen, die den Alltag abstreifen wollen. Dabei hat sie das Alltägliche längst hinter sich gelassen an diesem Donnerstagabend im nicht gar zu üppig besetzten Tübinger Sudhaus. Der Klang des Glases, über dessen Rand ihr Finger streicht, führt geradewegs in eine Traumsphäre. Das Cello von Marie-Claire Schlameus malt Möwenschreie und Seewind in den Saal. Die Protagonistin selbst steckt in einer eng anliegenden Artistenbluse und einem barock ausladenden Tüllrock, gleicht einer Kreuzung aus Prinzessin, Ballerina und Harlekin.
Es sind die Welten von Zirkus und Commedia dell'Arte, in die sie mit ihren Musikern aufbricht. Hier ist alles möglich, jede Volte der Fantasie erlaubt. Ein Riesenkaninchen hat seinen Auftritt und ein gasgefüllter Mops. Der Mops schlägt Salto, das Kaninchen zaubert und pafft Zigarre dabei. Dazwischen Meret Becker als Puppenspielerin und Parodistin, als tollpatschige Ballerina und zartes Traumgeschöpf mit rauem Berliner Straßenslang.
Seemannsgarn und Chansons
Sie bellt Seemannslieder durchs Megafon, streichelt Chansons mit bebendem Tremolo aus den Stimmbändern. Sie schwingt sich mit kuriosem Slapstick hoch zum Trapezring, hält dort ein Nickerchen, singt und turnt mit kindlicher Lust. Dazu steigt Theaternebel auf, und Merets Mitmusiker verweben alles in ein traumartiges Gewebe zwischen Hafenkneipe und Sphärenklang, Tom Waits und Moritatenton. Ben Jeger lässt die Fingerkuppen über die Gläser seiner Glasharfe fliegen, tupft traurige Walzer am Flügel, macht das Akkordeon zum Schifferklavier. Buddy Sacher zupft das Banjo mal ruppig, mal glitzernd fein, wirft groovende Gitarrensounds ein. Marie-Claire Schlameus entlockt ihrem Cello ein jenseitiges Schimmern oder verströmt voll Wärme sehnsüchtige Melodien.
So mischt sich das Ernste mit dem Albernen, der Witz mit der Melancholie. Meret Becker lässt Beinprothesen über Eier laufen, gurgelt als abgetakelte Diva »La vie en rose« mit Flüssigkeit aus dem Flachmann. Sie pustet in Tröten, sie scherzt, singt traurige Lieder. Und erzählt von der Berliner Bordsteinschwalbe, die sich in einer Lache Tränen auflöst. Über allem liegt die Sehnsucht nach dem Meer und der Ferne. Der Alltag ist längst vergessen, das Gewöhnliche hat sich zum Surrealen gewandelt - »Le Grand Ordinaire« nennt sich das Programm: Das Normale, das »Ordinäre« kommt plötzlich wie ein Bildtitel von Salvador Dalí daher. Und wie auf einem surrealen Bild von Dalí fährt Meret Becker Melodica spielend mit der Tretkutsche über die Bühne, »gezogen« von einem Spielzeugpferd.
Hängepartie am Zopf
Es ist unfassbar gekonnt, wie die Musiker ihr klangliches Zirkuszelt um diese verspielte Fantasiewelt weben. Und es hat den Charme kindlicher Lust am Nonsens, wie Meret Becker in dieser Fantasiewelt die fernwehgeplagte Clownsprinzessin gibt. Als Krönung taucht noch eine echte Artistin auf, zieht sich am eigenen Haar in die Lüfte, und das Publikum darf dazu mit Meret Becker auf einen gesungenen Roadtrip gehen. Der Zirkus zieht weiter, die Fantasie erobert neue Räume, der aufgeblasene Mops setzt zum letzten Sprung durch den Trapezreifen an, getragen vom Luftstrom eines Haarföhns. Die Show ist aus - die Sehnsucht nach fernen Gestaden und bunten Fantasiewelten bleibt. (GEA)