TÜBINGEN. Beethoven war taub, stocktaub, als er seine neunte Sinfonie komponierte. (Dass man ihn bei der Uraufführung 1824 am Ärmel zupfen musste, weil das Orchester schon fertig war und er unverdrossen weiterdirigierte, ist allerdings Legende.)
Diese Neunte ist auch deshalb wohl mehr Vermächtnis seines humanistischen Denkens, seiner kompositorischen Errungenschaften, mehr eine tief vergeistigte Geste als von ihrer heiklen klanglichen Umsetzung her gedacht. Zunächst vor allem mit der Sinfonietta Tübingen und dann mit seinem Philharmonia Chor Reutlingen, schließlich mit vier Vokalsolisten führte Martin Künstner die Neunte als Neujahrskonzert in der Tübinger Stiftskirche auf, die sehr gut besucht war.
Bei diesem mystischen, majestätischen und auch ein bisschen monströsen Spätwerk kommt es eher auf Aura und Charisma des Momentes an als auf filigrane Deutung der Details, zumal bei diesem Konzert auch die Kirchenakustik ihre umwölkende Rolle spielte. Aber die Sinfonietta, nicht nur um seltenere Instrumente wie Kontrafagott, Triangel oder Piccolo erweitert, erwies sich als professionelles Ensemble, das hohen handwerklichen Ansprüchen vollauf genügte.
Wogendes Klangmeer
Gut, der Beginn mit dem winzigen Motiv über der leeren Quint hätte noch ein wenig geheimnisvoller ausfallen können. Über das dumpfe Dauergrollen der Pauken ließe sich überhaupt mal zwecks Schlägelauswahl diskutieren. Hin und wieder traf ein Violinlauf in schnellem Staccato mal auf nicht ganz synchrone Bläser. Aber alle drei rein instrumentalen Sätze gaben ein gutes Bild von Beethovens spätem Stil, der mit formalen Begriffen nicht zu fassen ist. Wohl aber mit seinem Entwickeln und wieder Fragmentieren, mit zugespitzten Kontrasten, Modulationsschleifen, Verzögerungen oder auch mit seinen melodischen Findungen, von denen das »Freude, schöner Götterfunken«-Thema des Finales nur das populärste geworden ist.
Dass es der Philharmonia Chor leicht gehabt hätte in seinem halben Finalsatz-Auftritt, kann man vielleicht auch nicht sagen. Es galt sich zu behaupten, aber nicht zu brüllen, auch in übersichtlicher Vierstimmigkeit oder im Unisono präzise zu bleiben und kompatibel mit den anderen Akteuren und Blöcken.
Auch die Vokalsolisten (Christine Reber, Josy Santos, Johannes Petz und Siegfried Leukner), passend ausgesucht nach Kraft und tendenziell heller, durchhörbarer Stimmfärbung, hatten vor allem im wogenden Klangmeer nicht unterzugehen. Denn nicht nur der Text von Schillers freudetrunken rauschhafter Ode »An die Freude« neigt zu delirierender Ekstase, auch die Töne können im Überschwang leicht vom majestätisch Mitreißenden ins bombastisch Maßlose kippen. Das passierte nicht. Der Jubel blieb im Geregelten. Das Feierliche, Festliche, die brüderlich-schwesterliche Harmonie siegten.
Es gibt Aufführungen der Neunten, da bricht sofort nach dem letzten Ton euphorischer Jubel los. Lange, erhabene, respektvolle Stille kommt auch vor. Das Publikum in der Stiftskirche blieb beim Beifall mit Maß und Mitte, die auch dieses schöne Neujahrskonzert auszeichneten. (GEA)