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Aktuell Kultur

Schweben und Drängen

REUTLINGEN. Seit 40 Jahren bietet in Reutlingen die Musikreihe »musica nova« den lebendigen Kontakt mit zeitgenössischen Kompositionen, dank der finanziellen Unterstützung der Stadt, wie der künstlerische Leiter, Veit Erdmann, dankbar betonte. Passend zu den Heimattagen war für den Freitagabend ein Programm mit baden-württembergischer Anbindung durch Geburts- oder Wohnort der Interpreten und Komponisten gewählt worden, und durch ein Instrument, das in Konzertreife in Trossingen fabriziert wird: das Akkordeon. Ulrich Schlumberger gestaltete mit ihm unter anderem ein facettenreiches Panorama an Tonqualitäten.

Als Duo-Partner ergänzte Friedrich Gauwerky mit dem Violoncello die zu entdeckende Klangwelt der Werke, darunter eine Uraufführung für Violoncello solo: »Nach vorn ... III, introversion ins offene«. Komponist Ernst Helmuth Flammer will das Stück im Sinne von Studien verstanden wissen, als experimentelle Auslotung der Spieltechniken auf dem Cello, erklärte Erdmann.

Gauwerky, auf dessen Wunsch das Werk entstanden ist, betonte die große Herausforderung, die für den Komponisten durch die bestehende Cello-Literatur gegeben sei, allen voran jene von Bach. Dessen großes Thema, die Mehrstimmigkeit, habe Flammer aufgegriffen, jedoch durch ein durchweg akkordisches Herangehen. So seien die Töne für jede Saite des Cellos einzeln notiert.

Die Spannung zwischen traditioneller Form, ihrem Aufbrechen oder Zitieren, prägte auch die anderen Werke des Programms. Eröffnet wurde das Konzert mit Matthias Pintschers »Dernier espace avec introspecteur« von 1994 für Akkordeon und Violoncello. Dies verarbeite die Betrachtung einer Raumplastik von Joseph Beuys, die durch Kontraste wie filigran versus massig geprägt sei, beschrieb Erdmann. Entsprechend spannungsreich erwiesen sich die Passagen, zwischen Schweben und eruptiver, drängender Dynamik wechselnd, eine tonale Maschinenwelt, die sich aus sirrenden, fauchenden, glasartig klaren oder brummend vibrierenden Klängen entwickelt.

Musikalische Fürbitte

Im solistischen »Miserere« von Adriana Hölszky bildete Akkordeonist Schlumberger intensive Variationen musikalischer Fürbitte mit teils meditativem Charakter. Von Klaus Huber hatten die zwei Interpreten das Werk »Ein Haus von Unzeit« (1972) für Akkordeon und Cello gesetzt und wählten für sich selbst dabei eine getrennte Raumposition: Sie konzertierten quasi über das Publikum hinweg miteinander, Gauwerky auf der Bühne, Schlumberger im Saalhintergrund sitzend. Die Distanz intensivierte noch das atmende Miteinander etwa der Cello-Triller im Pianissimo, über das tastende Akkordeontöne sinnierten.

Mit Hölszkys »Wolke und Mond« (1996) bot das Duo ein sehr dynamisches, aufwühlendes Werk der in Stuttgart lebenden Komponistin, das sich mit der Zuverlässigkeit von Wahrnehmung beschäftigt. »Um unsere Seelen etwas zu beruhigen«, wie Gauwerky es formulierte, gaben die zwei Musiker als Zugabe dann ein insofern minimalistisches Stück von John Cage, als dessen »Harmony no. 13« von ausgedehnten Pausen geprägt ist. Das Publikum dankte mit warmem Applaus für den dämpfenden Abschluss wie schon vorher für das fordernde wie anregende Konzert. (sol)