KÖLN. Der Krieg in der Ukraine schreibt auch die Kunstgeschichte neu. Plötzlich öffnen sich die Augen der Historiker für die Tatsache, dass all das, was man bislang als russische Avantgarde bezeichnete, mehr war als nur dies. Als russisch verstanden wissen wollten sich die Künstler der Ukraine, die dieser Richtung zugeschlagen wurden, auch schon vor einhundert Jahren nicht. »Russische Moderne 1900-1930« – so heißt eine Ausstellung im Museum Ludwig Köln, die diesem Umstand erstmals Rechnung trägt, neues Licht auf eine Epoche wirft – und die, interessant genug, bereits vor Ausbruch des Krieges konzipiert wurde.
Die übergangene Kunstnation
Gezeigt wird die Ausstellung in der Reihe »Hier und Jetzt«, die bemüht ist, die Konventionen der Museumsarbeit zu hinterfragen. Zuvor schon befasste man sich am Museum Ludwig unter diesem Blickwinkel auch mit dem Thema des Kolonialismus – der auch im Hinblick auf die Ukraine greift. Denn die wurde als Kunstnation in der Vergangenheit sowohl aus der Sicht des Westens als auch der Sowjetunion, später Russlands, schlicht übergangen. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war die Ukraine ein Zentrum der Avantgarde. Unter Stalin dann wurden deren Werke diskreditiert, ihre Urheber verfolgt, mitunter ermordet.
Zuvor zu sehen war die Ausstellung in Madrid. Viele der gezeigten Werke befinden sich im Besitz der Sammlung Ludwig, wurden bislang unter den Begriff der russischen Avantgarde eingeordnet. Dazu kommen Leihgaben der nationalen Kunstmuseen der Ukraine. Der Schwerpunkt liegt auf den Städten Kyiv/Kiew, Charkiw oder Odessa.
Schreibweisen als Merkmal kultureller Aneignung
Kasymyr Malewytsch ist das berühmte Beispiel. Die Schau enthält mehrere seiner Werke – die »Skizze für die Bemalung des Konferenzsaals der Allukrainischen Akademie für Wissenschaften« (1930) stammt aus dem Bestand des nationalen Kunstmuseums der Ukraine, wurde ins Ausland überführt. »Suprematistische Komposition« (1915) und »Landschaft (Der Winter)« (1928) stammen aus der Sammlung des Museum Ludwig.
Malewitsch oder Malewytsch – Schreibweisen werden hier zum Indiz für eine Überschreibung nationaler Identität – wird weiterhin in den Nachschlagewerken und Kunstgeschichten als herausragender russischer Avantgardist geführt werden, als Begründer des Suprematismus, Vorläufer des Konstruktivismus. Er wurde 1879 in Kyiv/Kiew geboren, starb 1935 in Leningrad.
Zerstörung ukrainischer Kunst
Neben Malewytsch sind in Köln Arbeiten von Alexandra Exter zu sehen, die bislang als russisch-französische Malerin galt, von Dawyd Burljuk, Mychajlo und Tymofij Bojtschuk, die zwischen 1910 und 1930 den Boychukismus als dezidiert ukrainische Kunstrichtung begründeten, anders als die Avantgardisten an nationale Traditionen anknüpften. Sie wurden zur Zeit der Sowjetunion verfolgt, viele ihrer Werke wurden zerstört.
Mit Werken auch von Konstjantyn Jelewa, Oleksandr Bohomazow, Mykola Kasperovytsch, Wolodymir Burljiuk, Anatol Petryzkyj, Oleksandr Bohomazow, Wladimir Baranoff-Rossiné, Wasyl Jermilov, Marija Synijakowa, oft in kleinen Formaten, farblich stets ausdrucksstark, formal vielfältig, skizziert die Ausstellung eine ukrainische Kunst zwischen der Suche nach eigener Identität und internationaler Ausrichtung – und dies rund 100 Jahre vor dem russischen Überfall.
Ausstellungsinfo
Die Ausstellung "Ukrainische Moderne 1900 – 1930 & Daria Koltsova" im Museum Ludwig in Köln, Heinrich-Böll-Platz, ist bis 24. September zu sehen. Geöffnet ist Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, jeden ersten Donnerstag im Monat bis 22 Uhr. (GEA)
Symbolisch vor all diesen Werken steht eine großformatige Arbeit der Gegenwart: Daria Koltsova, geboren 1987 in Charkiw, schuf eine Glasinstallation, die nun im Vorraum der Ausstellung zu sehen ist und die die Formensprache jener Avantgarde, die keine russische war, in die Gegenwart überträgt: »Zusammengesetzt (Tesselated)« – so heißt das Werk, das die Skyline einer modernen Stadt unter einem Strahlenkranz: eine Explosion.
Man sieht also manches, in Köln, das zuvor bereits bekannt war, unter dem Label der russischen Avantgarde, entdeckt nebenher Neues, ahnt, entdeckt, wie durchaus eigenständig die Kunst der Ukraine in all ihren Ausformungen gesehen werden kann – und hat zuletzt vor allem dieses Eine gelernt: Dass auch die Kunstgeschichte eine Konstruktion ist, die die Wirklichkeit mitunter verfehlt, stets neu geschrieben werden muss. Hier nun geschieht dies unter dem unmittelbaren Einfluss eines Krieges – was zu denken geben darf. (GEA)