REUTLINGEN. Liebesgeflüster, ein blutiger Konflikt und pittoreske Figuren: Es ist reichlich was geboten in »Aci, Galatea e Polifemo« von Georg Friedrich Händel. Die Reutlinger Regisseurin Winni Victor bringt das Stück des Barockkomponisten als neueste Produktion ihrer Reihe »Reutlinger Kammeroper« heraus. Premiere - und zunächst einzige Aufführung - ist am 16. September im Reutlinger Georgensaal.
Aufführungsinfo
»Aci, Galatea e Polifemo«, eine »Serenata a tre« von Georg Friedrich Händel, hat am 16. September um 20 Uhr im Georgensaal der Freien Georgenschule Reutlingen Premiere. Weitere Aufführungstermine sind geplant, stehen im Moment aber noch nicht fest. (GEA)
Eine komplette Händel-Oper in Reutlingen? Das geht, weil »Aci, Galatea e Polifemo« keine herkömmliche Opera seria ist. Sondern das, was man damals »Serenata« nannte: ein kürzeres Musiktheater als Einlage zu einer größeren Feierlichkeit. In diesem Fall der Hochzeit von Tolomeo Saverio Gallio, dem Herzog von Alvito, mit Beatrice Tocco di Montemiletto 1708 in Neapel. Wo Händel sich gerade im Zuge seiner Studienreise durch Italien aufhielt. Beauftragt hatte den begehrten Jungstar die Tante der Braut, Aurora Sanseverino. Das Libretto verfasste deren Priester Nicola Giuvo nach einer Erzählung aus Ovids »Metamorphosen«.
In eine Quelle verwandelt
Was hat Winni Victor an dem Stoff interessiert? »Die Dramatik natürlich!« Die Wassernymphe Galatea verliebt sich unsterblich in den Hirtenjungen Acis (italienisch Aci), einen Faun. Das Werben des Zyklopen Polyphemos (italienisch Polifemo) weist sie mit Spott zurück. Aus Zorn zerschmettert der Riese seinen Rivalen mit einem Felsblock. Bei Ovid, den das Motiv der Verwandlung interessierte, bittet Galatea daraufhin ihren Vater, den Meeresgott Nereus, Acis Blut in eine Quelle zu verwandeln, damit sie ihm weiter nahe sein kann.
Zufällig hat das Tübinger Vielklang-Festival eine zweite Vertonung Händels desselben Stoffs für sein diesjähriges Kinderprojekt erkoren. Die weit opulentere Fassung »Acis and Galatea« aus Händels Zeit in England ist dreiaktig und mit Chor und hat mit dem Frühwerk aus Neapel musikalisch nichts gemein.
Winni Victor interessiert an der Frühfassung der dramatische Konflikt einer Frau zwischen zwei Männern. »Und das Motiv einer eskalierenden Gewalt.« Anders als Ovid sieht sie in Polyphem nicht nur das rasende Ungeheuer. Sie verweist auf Homer, dem zufolge Galatea zunächst Polyphems Gefährtin war, mit ihm sogar Kinder hatte. Für den jungen Hirten Acis verlässt sie den Riesen. Dessen Wut erscheint so in differenzierterem Licht.

Es sei ein Geschehen, das auch heute passiere, so Victor: Die Eifersucht eines Verlassenen schlägt in Gewalt um. Dennoch will Victor das Stück nicht in die Gegenwart versetzen: »Das soll nicht in der Küche von nebenan spielen.« Die Aktualität des Konflikts soll aus der zeitlosen Märchen-Ebene heraus spürbar werden. Die Bühne deutet dazu die Naturräume Wasser, Berg und Wiese an, die für die drei Figuren stehen. Als Wassernymphe, Berggeist und Faun sollen sie in ihrer Kostümierung auch erkennbar sein.
Widerstreitende Tonlagen
Spannend findet Victor, wie Händel den Konflikt über die Tonlagen der drei Sänger veranschaulicht. Acis, der junge Hirte, singt fast in Sopranlage. Sein Widersacher Polyphem grollt in tiefstem Bass. Galatea, die von beiden Seiten Umworbene, hat Händel tonhöhentechnisch genau dazwischen angesiedelt - in der Altlage.
Den Hirten Aci singt Countertenor Bagdasar Khachikyan, den Riesen Bassist Florian Hartmann. Beide waren auch in der letzten Kammeroper-Produktion zu Debussys Edgar-Allan-Poe-Vertonung dabei. Dazu kommt Mezzosopranistin Felicitas Brunke als Galatea. Den ohnehin schlank angelegten Orchesterpart hat man auf vier Instrumente reduziert: Cembalo, Violine, Cello und Oboe. Vom Cembalo aus leitet der Sindelfinger Kantor Daniel Tepper, aus dessen Umfeld auch die übrigen Instrumentalisten kommen: Stefanie Bartsch (Oboe/ Flöte), Júlia Magyar (Violine) und Kilian Schwarz (Cello).
Reichlich Koloratur-Artistik
Die Gesangspartien sind hoch anspruchsvoll mit reichlich Koloratur-Artistik. Händels frühe Fassung des Stoffs gilt als musikalisch gewagter und experimenteller. Gesungen wird auf Italienisch, Übersetzungen einzublenden, wäre technisch zu aufwendig. Es würde Victor zufolge auch ablenken, genauso wie eine Übersetzung im Programmheft, die es deshalb nicht gibt. »Ich werde die Handlung zu Beginn erzählen«, kündigt sie an. Und geht davon aus, dass man dem Geschehen auch intuitiv folgen kann.
Eigentlich sind moderne Stücke Victors Schwerpunkt in ihrer Kammeropern-Reihe. Der inzwischen verstorbene Reutlinger Musikexperte Karl Michael Komma habe sie jedoch darauf hingewiesen, dass das moderne Musiktheater gerade den kleinen, frühen Barockstücken viel verdanke. »Aci, Galatea e Polifemo« ist so ein Kleinod, das einen Konflikt auf bestechende Weise in Musik fasst.
Weitere Aufführungen sind angedacht, zum Beispiel im Tübinger Sudhaus. Die Terminfindung sei jedoch kompliziert, weil nach den Ferien alle Beteiligten wieder andere Verpflichtungen haben. Auch sei es schwierig, Aufführungsräume zu finden - da seien immer noch Nachwehen der Coronakrise zu spüren. (GEA)