REUTLINGEN. Fast 5.000 Menschen füllten den Reutlinger Marktplatz am späten Freitagnachmittag. Zur anschließenden szenischen Lesung in der Tonne 1 fanden leider nur rund 60 Menschen den Weg. Wer zur Aufführung kam, hörte Beschreibungen und Wortlaute, die in gesprochener Form die ganze Wucht des Geheimtreffens entfalteten und erlebbar machten, was dessen Inhalte im Land erzeugen könnten: Eine Umgestaltung der Gesellschaft nach dem Willen Weniger, als deren politischer Arm die AfD zu wirken scheint.
Das Berliner Ensemble und das Volkstheater Wien starteten die »Correctiv-Statement-Lesung« mit einer gemeinsamen Bearbeitung und einem Livestream. Vergangenen Mittwoch, zwei Tage vor der Aufführung bekamen die Tonne-Schauspieler Chrysi Taoussanis und David Liske den Text, der von Haus-Dramaturgin Alice Feucht und Intendant Enrico Urbanek adaptiert worden war. »Die Demokratie aktiv zu schützen ist eine Chance, die wir nicht vertun dürfen«, sagte Urbanek vor Beginn der Lesung.
Demokratie aktiv schützen als Aufgabe des Theaters
Die Szenerie in der Tonne 1 war zweckmäßig: Zwei Tische, zwei Stühle, zwei Lesende, ein Text. Chrysi Taoussanis und David Liske stellten zunächst Protagonisten des Geheimtreffens vor. Es versammelte Mitglieder der AfD, der Identitären Bewegung sowie Mitglieder der Werteunion, eines nationalkonservativen Flügels der CDU, der sich demnächst von der Partei abspalten könnte. Als Schlüsselfigur wird ein ehemaliger Zahnarzt aus Düsseldorf genannt.
Sie versammelten sich am 25. November in einer Villa am Lehnitzsee in Potsdam, die im Auftrag des ehemaligen Berliner Hoteliers Louis Adlon erbaut worden war. Die Villa liegt Luftlinie etwa sechs Kilometer von jenem Gebäude entfernt, in welchem 1942 die Wannsee-Konferenz stattfand, die den Holocaust an den europäischen Juden organisierte. Beim Geheimtreffen der Rechten in Potsdam im November 2023 ging es wieder darum Menschen nach rassistischen Kriterien aus Deutschland zu vertreiben.
Lakonisch, zynisch, technokratisch
Chrysi Taoussanis und David Liske füllten den Text mit Leben. Beide lasen zu Beginn auf lakonische Weise, wodurch der Zynismus des Texts nur noch mehr zutage trat. Sie wechselten sich ab, hoben jeweils Zitate im Textteil des anderen hervor. Sie schlüpften in die Rollen der Protagonisten, mit kleinen Gesten und einem jeweils scheinbar neutralen Tonfall, der im Unterton jedoch eine menschenverachtende Technokraten-Sprache bereithielt.
Chrysi Taoussanis war es wichtig gewesen, den Text »wach« zu lesen. Damit war sie sich mit David Liske einig, der den Originaltext zu distanziert fand. So hielten die beiden Schauspieler den Text straff, sprachen quasi in fliegendem Wechsel, blieben im Ausdruck jedoch stets prägnant. So erweckten sie den Eindruck, man sei in Potsdam, mitten unter den Geheimtrefflern. Die Wirkung auf die Zuschauer war unmittelbar. Abgesehen von einem kurzen Heiterkeitsausbruch, der schnell verstummte, war von den Rängen kaum ein Ton zu hören.
Nach der rund eine halbe Stunde dauernden Lesung verließ manche(r) den Saal in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Wut und wäre sicher bereit gewesen, zurück auf den Reutlinger Marktplatz zu ziehen, um die Demonstration draußen wieder aufleben zu lassen. (GEA)