REUTLINGEN. »In sanfter Kühle schick’ ich müssig Lieder / Gleich Taubenschwärmen in das Blau hinauf — / Und locke sie zurück, / Noch einen Reim zu hängen in’s Gefieder / — mein Glück! Mein Glück!«, schrieb Friedrich Nietzsche (1844-1900). Sein Gedicht ist ein Venedig-Gedicht, das mit der Zeile beginnt: »Die Tauben von San Marco seh ich wieder.«
Die Literaturwissenschaftlerin und ausgewiesene Nietzsche-Kennerin Renate Müller-Buck, ehemaliges Vorstandsmitglied der Freunde der Stadtbibliothek Reutlingen, schildert in ihrem neuen Buch »'… zitternd vor bunter Seligkeit': Nietzsche in Venedig« die fünf teils längeren Aufenthalte des Philosophen in der Lagunenstadt zwischen 1880 und 1887. Sie sei die einzige Stadt gewesen, die er geliebt habe, ein »geweihter Ort« für ihn. Aus der Sehnsucht nach ihr seien die schönsten Texte entstanden, so Müller-Buck.
Saitenspiel der Seele
Unter dem nächtlichen Eindruck von Gondeln, Lichtern und Musik notierte Nietzsche: »Meine Seele, ein Saitenspiel, / sang sich, unsichtbar berührt, / heimlich ein Gondellied dazu / zitternd vor bunter Seligkeit. / – Hörte Jemand ihr zu? …«
Bei Müller-Bucks Lesung in der Reihe »Reutlinger Premiere« in der Stadtbibliothek verlängerte Christoph Denoth die Gedichtzeilen auf der Gitarre ins Musikalische hinein. Die Autorin ließ Nietzsches Freundeskreis und den Philosophen selbst sehr plastisch und gegenwärtig werden. Erwähnte auch, dass Nietzsche mit dem in Venedig praktizierenden Arzt Alfred Kurz, Sohn des Reutlinger Literaten Hermann Kurz und Bruder der Schriftstellerin Isolde Kurz, auf dem Lido regelmäßig spazieren ging. Wobei dieser, von Nietzsche gebeten, über die Naturwissenschaften zu sprechen, offenbar nicht viel über Nietzsche wusste. Alfred Kurz habe kurzzeitig auch den Komponisten Richard Wagner behandelt, der in Venedig starb, so Müller-Buck.
Buch-Info
Renate Müller Buck: »… zitternd vor bunter Seligkeit«: Nietzsche in Venedig. 199 Seiten, 26 Euro, Wallstein Verlag, Göttingen.
Als Nietzsche im Januar 1889 in Turin einen geistigen Zusammenbruch erlitt, war er offenbar doch noch imstande, ein kurz zuvor entstandenes Venedig-Gedicht (»… zitternd vor bunter Seligkeit«) luzide vorzutragen. So habe ihn Venedig in seine geistige Umnachtung begleitet, sagte Müller-Buck.
Schon vor seinem ersten längeren Venedig-Aufenthalt war der Philosoph schmerzgeplagt, fürchtete immer wieder, bald sterben zu müssen, litt unter seinem getrübten Augenlicht. Er war damals Mitte 30, hatte sich als Professor an der Universität Basel vorzeitig pensionieren lassen. Umso überraschender - auch für ihn - müssen die Glücksgefühle gewesen sein, die sich in der Lagunenstadt einstellten, in der er ein recht zurückgezogenes Leben führte. Er arbeitete dort beispielsweise an »Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile« und ermutigte seinen Freund und Mitarbeiter Heinrich Köselitz (alias Peter Gast), anstelle einer Oper im Wagner-Stil eine, die sich mit dem Süden auseinandersetzt, zu komponieren (»Der Löwe von Venedig«).
Im Herbst soll Müller-Bucks Buch auch auf Italienisch erscheinen. Vielleicht wird dadurch ja angeregt, dass künftig Gedenktafeln an Nietzsches Wohnstätten in Venedig erinnern. (GEA)